Menschen mit seltenen Erkrankungen warten in Deutschland immer noch mehrere Jahre, bis sie eine Diagnose erhalten. Dabei sind die Betroffenen sowohl auf dem Weg zur Diagnose als auch danach enormen psychischen Belastungen ausgesetzt. Ein Gespräch mit Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Rupert Conrad über die psychischen Leiden im Zusammenhang mit seltenen Erkrankungen und mögliche Lösungsansätze, um Betroffene auch im Hinblick auf ihre seelische Gesundheit besser versorgen zu können.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Rupert Conrad, MBA
Ambulanz- und Forschungsleiter, Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am UK Bonn
Menschen mit seltenen Erkrankungen warten oft jahrelang auf ihre Diagnose. Was macht das mit der Psyche der Patienten?
Tatsächlich dauert es im Mittel etwa drei bis vier Jahre, bis Patienten mit seltenen Erkrankungen ihre Diagnose erhalten, nach einer Umfrage der European Organization of Rare Diseases beträgt die Zeit bei einem Viertel der Patienten sogar zwischen 5 und 30 Jahre. Die Zeit bis zur richtigen Diagnosestellung führt in der Mehrzahl der Fälle zu unangemessenen und belastenden medizinischen Untersuchungen bzw. Eingriffen. Nicht selten wird in diesem Zusammenhang auch eine psychische Fehldiagnose gestellt, beispielsweise die Patienten als somatoforme Störung fehldiagnostiziert: Dabei handelt es sich um Störungsbilder, bei denen die medizinischen Befunde die geklagten Beschwerden nicht hinreichend erklären können. Dies ist natürlich für die Patienten mit seltenen Erkrankungen äußerst belastend.
Das wiederum beleuchtet zusätzlich ein generelles Problem in Bezug auf psychische und psychosomatische Erkrankungen in unserer Gesellschaft: Menschen mit einer psychischen Erkrankung werden häufig nicht ernst genommen und die Erkrankung als eingebildet abgetan, was natürlich zu Stigmatisierung und Ausgrenzung führt und dem erheblichen Leidensdruck und der dringenden Behandlungsbedürftigkeit dieser psychischen Krankheitsbilder in keiner Weise gerecht wird.
Solange der Patient keine Diagnose hat, aber weiter unter den Symptomen der seltenen Erkrankung leidet, wachsen auch die Probleme im Alltag. Welche Folgen hat das für den seelischen Zustand Betroffener?
Dies kann natürlich negative psychische Folgen für den Betroffenen haben. Der Patient leidet unter seinen Krankheitssymptomen, kann diese gleichzeitig keiner Krankheit zuordnen, wird durch sein Umfeld, das die Krankheitssymptome ebenfalls nicht versteht, verunsichert, womöglich sogar stigmatisiert und ausgegrenzt. All dies kann erhebliche Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche haben und schränkt die Lebensqualität von Patienten massiv ein. Langfristig kann dies zu psychischen Erkrankungen, insbesondere Angst und Depression, führen.
Was verändert sich dann mit dem Moment der Diagnosestellung in positiver Hinsicht?
Die frühe und exakte Diagnosestellung ist von entscheidender Bedeutung, um den Leidensweg von Patienten mit einer seltenen Erkrankung zu verkürzen. Mit einem Mal lassen sich konkrete Fragen stellen und Antworten suchen, wie zum Beispiel nach den Behandlungsmöglichkeiten und der Kostenübernahme, nach eventuellem Förder- oder Pflegebedarf, zum Thema Familienplanung und Familienanamnese, falls die Erkrankung vererbbar ist, oder zur Prognose der Erkrankung.
So schwer oder belastend im Einzelfall die Diagnose auch sein mag, bedeutet sie für viele Betroffene und deren Angehörige oft Erlösung aus einer langen Zeit der Ungewissheit und damit einer Situation, die nicht bewältigt werden kann, weil sie komplett unklar ist und Betroffene und Angehörige nicht wissen, worauf sie sich einstellen müssen. Diese Ungewissheit erhöht Stress, Angst und Hilflosigkeit.
Wie sehen die psychischen Herausforderungen nach der Diagnosestellung aus?
Es gibt inzwischen einige Studien, die sowohl die psychischen Herausforderungen bei Betroffenen als auch bei Eltern betroffener Kinder untersuchen, wobei Studien aus Deutschland fehlen. Für von einer seltenen Erkrankung Betroffene ergeben sich emotionale Belastungen durch Unsicherheiten im Hinblick auf die Behandlung, den Krankheitsverlauf und die Prognose. Hinzu kommt, dass viele Betroffene immer wieder mit der mangelnden Kenntnis im medizinischen Versorgungssystem konfrontiert sind, was bedeutet, dass Betroffene häufig schildern, selbst zu Experten ihrer Erkrankung werden zu müssen, um sich für die richtige Behandlung im medizinischen Versorgungssystem einzusetzen. Aber auch die Unkenntnis über die eigene Erkrankung im direkten Umfeld macht Betroffenen zu schaffen, weil dies oft mit Stigmatisierung und Ausgrenzung einhergehen kann. Die aus all diesen Faktoren resultierende emotionale Belastung mündet häufig in eine psychische Erkrankung, wie etwa eine Depression oder Angststörung. In einer aktuellen Studie aus Großbritannien mit über 1.300 Patienten mit seltenen Erkrankungen schildern 36% der Befragten sogar Suizidgedanken im Zusammenhang mit der Belastung. Gleichzeitig weisen die Betroffenen in den Studien darauf hin, dass ein ausreichendes Bewusstsein für das Ausmaß psychischer Belastung durch eine seltene Erkrankung bei Behandlern fehlt, ihnen nur in seltenen Fällen psychische Unterstützung angeboten wurde, was zu einem auf die körperliche Behandlung verengten Versorgungsangebot führt.
Betrachten wir die Belastung von Eltern betroffener Kinder, so sind die Eltern häufig von Trauer überwältigt, befürchten den Verlust ihres Kindes, spüren Schuldgefühle und Hilflosigkeit. Sie fühlen sich in der alltäglichen Fürsorge für ihr Kind überfordert und sind unsicher, ob sie die Fürsorgepflichten langfristig bewältigen können. Dazu kommen Unsicherheiten hinsichtlich des Verlaufs der Erkrankung und des kindlichen Wohlbefindens. Im Erleben der Eltern werden nahezu alle sozialen Beziehungen durch die mit der Betreuung verbundenen Pflichten nachteilig beeinflusst. Die alltägliche Pflegebedürftigkeit und die versäumten Möglichkeiten, Zeit miteinander zu verbringen, wirken sich negativ auf die Paarbeziehung aus. Eltern bezeichnen insbesondere finanzielle Angelegenheiten als Hauptursache von Stress und äußern Sorge bezüglich der zukünftigen finanziellen Belastungen durch die Erkrankung. Trotz der starken emotionalen Belastung wird nur wenigen Eltern im Rahmen der Behandlung psychologische Unterstützung durch einen spezialisierten Arzt/Psychologen oder durch eine Selbsthilfegruppe angeboten.
Seltene Erkrankungen sind bei Betroffenen und Angehörigen also mit erheblichen psychischen Herausforderungen verbunden, und diese Tatsache ist vielen Behandlern noch nicht ausreichend bewusst.
Welche Rolle spielt die interdisziplinäre Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen, zum Beispiel an einem Zentrum für Seltene Erkrankungen, besonders auch im Hinblick auf die psychische Gesundheit der Betroffenen?
Die Zentren für Seltene Erkrankungen stellen durch eine enge Zusammenarbeit von Spezialisten verschiedener Fachgebiete und durch die Verknüpfung von Krankenversorgung und Forschung eine deutliche Verbesserung der Versorgungsqualität dar. Seit dem Jahr 2009 wurden an vielen deutschen Universitätskliniken ZSEs gegründet. Durch die Bündelung verschiedener Fachdisziplinen nehmen die Zentren nicht nur die körperlichen Symptome, sondern auch die psychischen Symptome von Betroffenen in den Blick, ohne dass Patienten in Sorge sein müssen, dass aufgrund psychischer Symptome die körperlichen Beschwerden nicht ausreichend ernst genommen werden. Diese Versorgung von Seele und Körper, nichts anderes heißt ja Psychosomatische Medizin, ist wesentlich dafür, dass sich Betroffene in ihrem Leiden verstanden fühlen. So ist am Bonner Zentrum für Seltene Erkrankungen, mit dem ich selbst eng zusammenarbeite, eine Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an zentraler Stelle in das Zentrum integriert. In Zusammenhang mit den ZSEs kann nicht genügend betont werden, dass die Verbesserung der Versorgungsqualität nicht zuletzt über die laut hörbare Stimme der Patientenorganisationen für seltene Erkrankungen wie die European Organization of Rare Diseases und die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen maßgeblich bewirkt wurde, die Patienten ihr Schicksal also tatkräftig selbst in die Hand genommen haben. Es ist sehr zu wünschen, dass diese verbesserte Versorgung von Betroffenen und Angehörigen in den Zentren für Seltene Erkrankungen nachhaltig gesichert und weiter ausgebaut wird. Dafür ist natürlich die zukünftige finanzielle Ausstattung der Zentren, um die natürlich gerade in Pandemiezeiten gerungen wird, von großer Bedeutung. Im Zentrum aller Bemühungen bei seltenen Erkrankungen sollte auch in Zukunft die Verminderung des körperlichen und seelischen Leidens sowie die Verbesserung der Lebensqualität aller betroffenen Menschen stehen.
Eine aktuelle Studie aus Großbritannien befragte über 1.300 Patienten mit seltenen Erkrankungen. Hier sehen Sie einen Auszug aus den Ergebnissen:
•95% der Befragten berichten über Ängste und Sorgen aufgrund der Erkrankung*
•90% klagen über depressive Symptome*
•93% haben eine hohe Stressbelastung*
•88% sind emotional erschöpft*
•86% der Befragten schilderten sogar Suizidgedanken im Zusammenhang mit der Belastung*
* Quelle: Spencer-Tansley R et al. Rare diseases and mental health in the UK – a quantitative survey and multi-stakeholder workshop. www.researchsquare.com/article/rs-9686/v2 (letzter Zugriff: 05.02.2021)