Die Myeloproliferativen Neoplasien (MPN) sind eine Gruppe von seltenen Erkrankungen des Knochenmarkes, zu denen auch die Polycythaemia Vera (PV) gehört. Wir sprachen mit Werner Zinkand über die Last der Erkrankung und die wichtige Rolle der Patientenselbsthilfe.
Werner Zinkand
Vorsitzender der internationalen MPN-Advocates
Herr Zinkand, Sie sind betroffen von der seltenen Erkrankung Polycythaemia Vera. Wie hat sich die Erkrankung bemerkbar gemacht und wann haben Sie Ihre Diagnose erhalten?
Im Jahr 2000 war ich zum Gesundheitscheck bei meiner Hausärztin, da war ich 47 Jahre alt. Meine Ärztin hatte zu hohe Thrombozyten festgestellt und mir ASS (einen Blutverdünner) verschrieben, das habe ich einige Jahre genommen. Aber es kamen mit der Zeit Sehstörungen dazu: ich habe verschwommen oder Doppelbilder gesehen, nach einer Minute war das meist wieder vorbei. Die Ärztin konnte das nicht einordnen. Schrecklich war auch ein extremer, stechender Juckreiz, besonders nach Wasserkontakt nach dem Duschen. Juckreiz ist ein deutliches Symptom der PV, der die Patienten verrückt machen kann. Aber mein Dermatologe kam nicht auf PV. Die richtige Diagnose kam durch Zufall: 2011, zehn Jahre nach den ersten Beschwerden, bin ich auf die Schulter gestürzt, es wurde ein MRT gemacht. Dem Radiologe fiel mein Knochenmark auf, es war marmoriert. Im Knochenmark bilden sich die Blutzellen. Meine Hausärztin hat mich dann zum Hämatologen überwiesen, der die Diagnose Polycythaemia Vera gestellt hat.
Was sind für Sie als Betroffener die größten Herausforderungen und wie wirkt sich die Erkrankung auf Ihr Leben aus?
Wegen des Juckreizes kann man nachts nicht schlafen und ist tagsüber kaputt. Die Diagnose selbst ist ein Schock: man hat über Nacht, für den Rest des Lebens, eine unbekannte chronische Krankheit. Wenn man in der Hämatologie und Onkologie behandelt wird, bekommt man Angst, wird mit schlimmen Schicksalen konfrontiert und fragt sich: wie geht es jetzt weiter? Habe ich jetzt Krebs? Mit der Antwort tun sich die Ärzte schwer, denn ja, es handelt sich um eine chronische Blutkrebserkrankung. Chronisch heißt aber, dass sie in den meisten Fällen langsam voranschreitet. Die Zellen des Blutes vermehren sich unkontrolliert, unbehandelt haben wir ein hohes Thrombose- oder Embolierisiko.
Patienten müssen gehört werden.
Mittlerweile gibt es Medikamente, mit denen die Beschwerden gelindert werden können. Ein klassisches Medikament, eine leichte Chemotherapie, ist seit Jahrzehnten auf dem Markt. 2012 kam ein sogenannter Inhibitor dazu, der später eingesetzt wird, wenn man die Erstlinientherapie nicht verträgt oder sie nicht mehr reicht. Aktuell werden mehr Medikamente zugelassen, alle wirken verschieden. Ein erfahrener Hämatologe kann unsere Beschwerden meist gut kontrollieren – das ist eine wichtige Information für Betroffene.
Sie sind sehr engagiert in der nationalen und internationalen MPN-Patientenselbsthilfe. Welche Rolle spielt diese aus Ihrer Sicht, wenn es um die Verbesserung der Lebensqualität Betroffener geht?
Wissen ist die beste Medizin. Die Selbsthilfe hilft Betroffenen, sich mit ihrer Erkrankung vertraut zu machen. Das kann ein Stück weit den Schrecken nehmen. Man fühlt sich zu Beginn sehr allein, besonders mit einer seltenen Erkrankung wie der PV. Ich hatte bald einen anderen Betroffenen kennengelernt, der eine kleine Selbsthilfegruppe gegründet hat, wir waren anfangs zu dritt. Der Erfahrungsaustausch war sehr wichtig für mich, deshalb engagierte ich mich neun Jahre lang im deutschen MPN-Netzwerk. Seit zwei Jahren bin ich Vorstand der internationalen MPN-Advocates, das ermöglicht mir eine größere Perspektive. Gemeinsam kann man viele positive Entwicklungen vorantreiben! Erfahrene Patient:innen sind heute gefragt, mehr denn je. Für Betroffene, die sich engagieren wollen, gibt es Schulungen. Wir arbeiten in nationalen und internationalen Gremien mit, unsere Erfahrungen helfen auch Pharmafirmen bei der Entwicklung neuer Medikamente. Heute tragen Patienten entscheidend zu unserem Gesundheitswesen bei.
Was ist bezüglich der Versorgung Betroffener wichtig, damit diese ihren Alltag bestmöglich meistern können?
Man muss zurückfinden ins Leben und lernen, die Krankheit als Teil des Lebens anzunehmen. Aber sie sollte in den Hintergrund treten. Neben der Medizin spielt auch die psychologische Betreuung eine große Rolle. Sie kann helfen, die Krankheit zu akzeptieren, ohne dass man die Hoheit über das eigene Leben verliert. Außerdem müssen wir Patienten gehört werden. Ärzte achten oft auf andere Aspekte als wir. Eine Umfrage ergab, dass Ärzte zuerst auf das Blutbild schauen, Patienten ist aber die Lebensqualität wichtiger. Und die korreliert nicht unbedingt mit guten Blutwerten.
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.mpn-advocates.net