Die ATTR-Amyloidose hat viele Gesichter. Bei der seltenen Erbkrankheit lagern sich Eiweiße als Amyloid überall im Körper ab. Je nach genetischer Ausprägung werden dabei unterschiedliche Organe nachhaltig geschädigt: oft das Herz, das periphere Nervensystem, also die Nerven außerhalb von Gehirn und Rückenmark, und der Verdauungstrakt, seltener die Augen. Unbehandelt ist die ATTR-Amyloidose lebensbedrohlich. Im Interview berichten Dr. Sarah Bernsen vom Universitätsklinikum Bonn und ihr Patient Manuel F. da Silva, Mitgründer des Amyloidose-Patientenverbandes, von schwierigen Diagnosen und hoffnungsstiftenden Behandlungen.
Dr. Sarah Bernsen
Fachärztin für Neurologie und Intensivmedizin am Universitätsklinikum Bonn
Manuel F. da Silva
Amyloidose-Patient und Mitbegründer des Patientenverbandes FAP e.V.
Herr da Silva, wie machte sich Ihre ATTR-Amyloidose bemerkbar und wie kam es zur Diagnose?
Ich war Anfang 30, als im Jahr 2004 erste Taubheitsgefühle aufkamen. Zum Glück bin ich an einen Arzt geraten, der die Erkrankung kannte, da er ein Praktikum in Portugal absolviert hatte. Ich habe portugiesische Wurzeln, was insofern von Bedeutung ist, als die ATTR-Amyloidose dort endemisch ist. Das heißt, es gibt in Nordportugal deutlich mehr Betroffene als hierzulande, wo die Krankheit mit nur 300 bis 400 Fällen (bei sicher hoher Dunkelziffer) sehr selten ist. Dank meiner Aktivität im Patientenverband weiß ich, dass die meisten Patient*innen drei bis vier Jahre unterwegs sind, bis sie ihre Diagnose bekommen. Was tragisch ist, da die Organschäden irreparabel sind und einige versterben, noch bevor sie eine Diagnose bekommen.
Dr. Bernsen, was passiert genau im Körper der Betroffenen und wie verläuft die Erkrankung?
Die ATTR-Amyloidose entsteht infolge vererbter Genveränderungen (Mutationen) im TTR-Gen. Mehr als 130 Mutationen sind bis heute bekannt. Bei allen kommt es zu einer Destabilisierung des Transporteiweißes Transthyretin, das zu 90 Prozent in der Leber und zu zehn Prozent im Nervensystem produziert wird. Es zerfällt und lagert sich an verschiedenen Organen im Körper als Amyloid ab. Deshalb wird die ATTR-Amyloidose auch als Multisystemerkrankung bezeichnet. Je nachdem welche Mutation vorliegt, schädigen die Ablagerungen einzelne Organe besonders stark. Am häufigsten sind das periphere Nervensystem und das Herz betroffen.
Unbehandelt liegt die mittlere Überlebenszeit der Betroffenen, die zum Zeitpunkt, an dem die ersten Symptome auftreten, typischerweise 30 Jahre und älter sind, zwischen zwei bis zehn Jahren. Wobei schon nach der Hälfte der Zeit mit einem Verlust der Gehfähigkeit und im weiteren Verlauf mit einer Rundum-Pflegebedürftigkeit zu rechnen ist.
Herr da Silva, wie wurden Sie therapiert?
Zu der Zeit, in die meine Diagnose fiel, war eine Lebertransplantation noch die Therapie der ersten Wahl. Man entfernte die Leber, die einen Defekt hatte. Ich entschied mich aus Angst vor einem Leben im Rollstuhl und einem frühen Tod dafür und ließ mir 2005 in Münster eine gesunde Leber transplantieren. Meine kranke habe ich einem Krebspatienten gespendet, der damit noch sieben Lebensjahre geschenkt bekam. Das nennt man Domino-Transplantation, eine in Portugal übliche Vorgehensweise, in Münster war ich damit der erste Fall.
Dr. Bernsen, was macht die Diagnose so schwierig?
Der unspezifische Symptombeginn und die Seltenheit der Erkrankung erschweren die Diagnose. Denn Herzprobleme, von Rhythmusstörungen bis hin zur Insuffizienz, Nervenprobleme wie Missempfinden, Taubheitsgefühle und Lähmungen, Erektionsstörungen, Magen-Darm-Probleme wie Durchfall, Appetitlosigkeit und infolgedessen Gewichtsverlust könnten für sich genommen auch Zeichen einer anderen Erkrankung sein. Erst die Kombination mehrerer dieser Symptome bringt uns Ärzte auf die Spur der ATTR-Amyloidose. Vorausgesetzt, wir schauen über den Tellerrand hinaus und sehen als Kardiologe nicht nur aufs Herz, als Neurologe nicht nur auf die Nerven, als Internist oder Gastroenterologe nicht nur auf den Magen-Darm-Trakt. Die Diagnose der ATTR-Amyloidose ist fachübergreifend – ebenso wie ihre Therapie.
Herr da Silva, wie ging Ihr Leben nach der Lebertransplantation weiter?
Mir ging es lange gut. Nach etwa sieben Jahren jedoch zeigten sich wieder Symptome der Erkrankung. Zum Beispiel litt ich an einem unkontrollierbaren Durchfall, bekam Probleme mit dem Wasserlassen. Heute wache ich jeden Morgen mit Taubheitsgefühlen im Gesicht auf.
Dr. Bernsen, ist das typisch, dass die Krankheit trotz neuer Leber wiederkommt?
Ja, das kommt bei einem Teil der organtransplantierten Patienten vor. Es spielen offensichtlich weitere Faktoren eine Rolle. Und auch die oben erwähnten Prozentanteile Transthyretin, die nicht in der Leber produziert werden, können zu einem Fortschreiten der Erkrankung im zentralen Nervensystem führen.
Herr da Silva, welche Therapie bekommen Sie jetzt?
Ich erhalte derzeit Infusionen, die den Krankheitsverlauf bremsen sollen.
Dr. Bernsen, wie bewerten Sie die verfügbaren Therapien?
Die Lebertransplantation ist nicht mehr Therapie der ersten Wahl. Seit 2011 gibt es ein Medikament, das – oral verabreicht – das Transthyretin stabilisiert. In den letzten Jahren kamen – und das ist durch-aus ungewöhnlich für eine derart seltene Erkrankung – zwei weitere Medikamente hinzu, die teils als Infusion verabreicht, die Produktion des Eiweißes in der Leber mindern. Gentherapien, die nicht nur die Erkrankung verlangsamen, sondern die Krankheitsursache angehen, sind noch Zukunftsmusik.
Was wünschen Sie sich für die Versorgung Betroffener?
Ganz klar: schnellere Diagnosen. Das braucht auf beiden Seiten, der der Betroffenen und der der Medizin, mehr Achtsamkeit für die typischen Symptomkombis. Außerdem wünsche ich mir, dass die Therapien überall verfügbar sind. In Portugal beispielsweise ist meine Art der Infusiontherapie aus finanziellen Gründen nicht erhältlich. Es kann nicht sein, dass eine Therapiemöglichkeit abhängig von dem Land ist, in dem man lebt. Hier gibt es noch Handlungsbedarf.
Über den Patientenverband für ATTR-Amyloidose
Der Patientenverband für ATTR-Amyloidose wurde von Manuel F. da Silva mitgegründet. Dort finden insbesondere Betroffene und Angehörige Informationen, Anlaufstellen zu Beratung, Behandlung und ganz wichtig: eine Plattform zum Austausch.