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„Nicht-dystrophe Myotonien sind schwerwiegende Erkrankungen, für die mehr Awareness geschaffen werden muss“

Foto: AdobeStock_203920126

Nicht-dystrophe Myotonien (NDM) sind eine Gruppe seltener Erberkrankungen. Das Hauptsymptom: Betroffene sind aufgrund der Krankheit nicht fähig, die der körperlichen Bewegung dienenden Muskeln (Skelettmuskulatur) nach der Kontraktion sofort wieder zu entspannen. Ein Gespräch mit der Expertin Prof. Dr. Christiane Schneider-Gold zu den diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten.

Es muss ein Bewusstsein geschaffen werden, dass es eben nicht nur eine Muskelsteifigkeit oder Muskelverkrampfung ist, die ab und an auftritt.

Prof. Dr. Christiane Schneider-Gold

Oberärztin der Neuromuskulären Ambulanz am Katholischen Klinikum Bochum

Foto: Klinikum Bochum

Nicht-dystrophe Myotonien sind selbst für erfahrene Mediziner nicht leicht zu erkennen. Was sind die Herausforderungen bei der Diagnosestellung?

Die nicht-dystrophen Myotonien sind zum einen sehr seltene Erkrankungen, die zu den (muskulären) Ionenkanalerkrankungen zählen. Nur etwa 20 Menschen von einer Million sind von einer solchen Ionenkanalerkrankung betroffen. Bei der Unterform der NDM sind es noch einmal weniger, hier liegt die Inzidenz bei 16 zu einer Million. Innerhalb der Gruppe der NDM muss man dann noch unterscheiden, welche Mutation zugrunde liegt.

Anhand der klinischen Anzeichen wie z. B. Muskelsteifigkeit lässt sich eine NDM nicht sofort erkennen, da man erst einmal schauen muss, ob es sich z. B. um normale neurogene Muskelkrämpfe handelt. Solche Krämpfe können auch bei Elektrolytstörungen oder Vitamin D-Mangel auftreten und sind in dem Kontext wesentlich häufiger. Zudem haben bei manchen Betroffenen auch andere Familienmitglieder die gleichen Beschwerden, sodass man denken könnte, dass es sich um eine familiäre Besonderheit handelt. Das wird oft einfach hingenommen, ohne dass weitere Untersuchungen stattfinden. Es handelt sich also um ein klinisch anspruchsvolles Krankheitsbild.

Sind die Symptome stärker ausgeprägt, oder treten sogar schon bei Kindern auf, dann wird meist genauer geschaut. Aber sowohl Kinderärzte als auch Allgemeinmediziner behandeln ein so breites Krankheitsspektrum, dass es nicht leicht ist, auch im Bereich der neuromuskulären Erkrankungen direkt an NDM zu denken.

Hat man die Vermutung, dass eine Myotonie vorliegen könnte, dann kann über eine genetische Untersuchung eine gesicherte Diagnose gestellt werden.

Wie äußern sich NDM, wie wirken sie sich auf den Alltag Betroffener aus und was sind die daraus resultierenden Herausforderungen und Folgen für Betroffene?

Die Patienten haben eine Reaktionsstörung der Muskulatur, d. h. sie können Muskeln nach einer Anspannung nicht sofort entspannen. Erwachsene Patienten leben oft jahrelang mit den Beschwerden, die sie als ständige Muskelkrämpfe teilweise begleitet von Schmerzen beschreiben.

Nur etwa 16 Menschen von einer Million sind von einer nicht-dystrophen Myotonie betroffen.

Es handelt sich aber nicht um Krämpfe, sondern um eine Muskelsteifigkeit: Nach dem Zugreifen kann der Griff beispielsweise nicht sofort wieder geöffnet werden, was für Betroffene bei manuellen Tätigkeiten und im sozialen Kontext sehr unangenehm sein kann. Nach Ruhephasen kann es beim Aufstehen vom Stuhl oder beim Aussteigen aus dem Auto zu einer Blockade der Beinmuskeln kommen: Betroffene können nicht sofort loslaufen und es besteht die Gefahr von Stürzen. Die Zungenmuskulatur kann ebenfalls betroffen sein, sodass das Sprechen hörbar beeinträchtigt sein kann.

Auch Augenbewegungen können verlangsamt sein, so dass die Augäpfel nach einem Aufwärtsblick zunächst in der nach oben geführten Position verbleiben und erst verzögert wieder in die Ausgangsposition zurück geführt werden können. Beim Niesen kann es zu einem verlängerten Augenschluss kommen, der nicht sofort gelöst werden kann. Dies kann beim Autofahren problematisch werden.

Kinder können infolge der Muskelsteifigkeit häufiger hinfallen und gelten dann als „tollpatschig“. Bei starker Myotonie der Beinmuskulatur kann es sein, dass Kinder im 1. Lebensjahr verfrüht stehen können. Dies wird meist nicht als Defizit wahrgenommen, ganz im Gegenteil: Die Eltern freuen sich eher, dass das Kind schon so früh stehen kann.

Durch die ständige unwillkürliche Aktivität der Muskeln bildet sich in vielen Fällen ein muskulöser Habitus aus, auch schon bei Kindern. Häufig sind die Wadenmuskeln dabei besonders gut ausgeprägt. Betroffene haben trotz der guten Ausprägung der Muskulatur häufig mit der Muskelsteifigkeit zu kämpfen, einige sind aber tatsächlich auch sehr sportlich. Es kommt dabei auf den Ausprägungsgrad der Myotonie an.

Die Bandbreite ist enorm: Bei einer leichten Myotonie können durchaus sportliche Tätigkeiten auch im Leistungssportbereich ausgeführt werden, bei einer stark ausgeprägten Myotonie kommt es hingegen schon fast zu einem „Einfrieren“ der Muskulatur. Bei der Sonderform der Paramyotonie ist neben körperlicher Belastung vor allem Kälte ein starker Trigger, sodass die Muskelsteifigkeit besonders im Winter oder beim Schwimmen im kalten Wasser oder beim Versuch, einen Bus oder eine Bahn gerade noch zu erreichen, auftritt. Das kann für Betroffene sehr unangenehm, und im Wasser infolge der plötzlichen Unfähigkeit sogar traumatisch bis lebensgefährlich werden.

Die Erkrankung hat also neben der körperlichen auch eine große psychologische Komponente, unter der Patienten sehr leiden können. Abgesehen von den muskulären Beschwerden leiden Betroffene oft auch unter Schmerzen und sind durch die vermehrte Anstrengung, die das Überwinden der Myotonie erfordert, ständig müde.

Zudem können durch die Myotonie Fehlbelastungen des Skelettsystems auftreten, was sekundär z. B. zu Rückenschmerzen führen kann.

Wie sehen die derzeitigen Therapieoptionen aus und wie helfen diese den Betroffenen, ein weitestgehend normales Leben führen?

Bisher gibt es ausschließlich symptomatische Therapien, sogenannte Antimyotonika. Zu diesen zählen so genannte Klasse I-Anti-Arrhythmika, die primär zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen eingesetzt werden, und Medikamente, die zur Behandlung der Epilepsie eingesetzt werden. Vertreter beider Substanzgruppen führen über ihre Effekte auf muskuläre Natriumkanäle (Natriumkanalblocker) zu einer Stabilisierung des Muskelaktionspotentials und damit zu einer Abnahme der Myotonie, sodass das vorherrschende Krankheitssymptom, die Myotonie/Muskelsteifigkeit, abnimmt. Darüber hinaus gibt es Substanzen, die über andere Mechanismen direkt oder indirekt zu einer Normalisierung der intra- und extrazellulären Ionenkonzentration führen und damit das Muskelaktionspotential stabilisieren. Folglich ist unter der jeweiligen Therapie wieder eine Entspannung der Muskulatur und damit ein normalisierter Bewegungsablauf möglich. Abgesehen von der medikamentösen Therapie sollten Betroffene regelmäßig Physiotherapie erhalten.

Was wünschen Sie sich bezüglich der Versorgung von Menschen mit NDM?

Mein Wunsch ist vor allem, dass eine höhere Awareness in Bezug auf diese Krankheitsbilder entsteht, damit Patienten, die über bewegungs- oder temperaturabhängige Beschwerden klagen, schneller auf NDM untersucht werden. Es muss ein Bewusstsein geschaffen werden, dass es eben nicht nur eine Muskelsteifigkeit oder Muskelverkrampfung ist, die ab und an auftritt, sondern dass es sich um unterschiedliche genetisch bedingte organische Erkrankungen handelt, deren Symptomatik durch geeignete Medikamente zumindest bei einem großen Teil der Betroffenen deutlich zu lindern ist. Daher sollte auch schneller über die Genetik zumindest eine Ausschlussdiagnostik betrieben und zudem auf Chlorid- und Natriumkanalmutationen untersucht werden. Auch eine Familienanamnese ist wichtig, um zu schauen, ob bereits ähnliche Fälle aufgetreten sind.

Weitere Informationen finden Sie auf der Website der Patientenorganisation Mensch und Myotonie e. V.

www.menschundmyotonie.de

Kontakt
Mensch & Myotonie e. V.
Postfach 16 03 30, 44333 Dortmund
1. Vorsitzender: Volker Kowalski
E-Mail: [email protected]
Tel.: 0231-803290 ( ab 12 Uhr )

instagram.com/officialmyotonia.orga
facebook.com/Myotonien
tiktok.com/@myotonia.org

Auch auf der Website der Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e. V. finden Sie weitere Informationen

www.dgm.org

Kontakt
Bundesgeschäftsstelle der DGM
E-Mail: [email protected]
Tel.: 07665 94470

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