Eine Mutter berichtet über das Leben mit einer fatalen Diagnose.
Krebs hätte ich lieber diagnostiziert – mit diesen Worten tritt vor einigen Jahren unerwartet die Duchenne-Muskeldystrophie in das Leben von Christiane Neemann und ihres damals 5-jährigen Sohnes. Nun gewährt die Mutter bewegende Einblicke in die schwere Zeit nach der Diagnose und ihren Weg zurück in ein lebenswertes Leben.*
Wie betäubt
Nie werde ich den sonnigen Tag im März vor vielen Jahren vergessen, an dem der Kinderarzt verkündete: „Ihr Sohn hat eine schwerwiegende, bösartige, unheilbare Muskelkrankheit“. Er blickte mich vorsichtig an, als wartete er auf eine Reaktion. Doch da war nichts. Nur ein Gefühl von Watte in meinem Kopf. Krebs hätte er lieber diagnostiziert, da könne er wenigstens ein paar Heilungschancen aufzeigen, so erklärte er mir weiter, wohl in der Hoffnung, dass das eine Reaktion auslösen würde. Wie bitte? Diese Krankheit sollte sogar schlimmer sein als Krebs? Ich saß da wie betäubt und wusste nichts anzufangen mit diesen leeren Worthülsen. Sie erreichten mein Bewusstsein nicht.
Sturz ins Bodenlose
Eine dunkle Zeit folgte auf diesen schicksalhaften Tag. Tagelang hatte ich das Gefühl, ins Bodenlose zu stürzen. Immer hatte ich vor Augen, dass mein gerade mal fünf Jahre alter, argloser, blondgelockter, kleiner Junge an dieser Krankheit sterben würde. Dieser Gedanke zerriss mir das Herz. Mal war ich zutiefst traurig, dann wieder voller Wut, wünschte mir, ein Asteroid möge sämtliches Leben in Westeuropa auslöschen, denn wenn mein Sohn nicht leben dürfe, sollte es auch kein anderer tun.
Vom Leben aufgefangen
Mein kleiner Junge ahnte natürlich nicht, was vor sich ging und auch seine ältere Schwester wirbelte weiter durch ihr Leben. Das war vielleicht meine Rettung, denn so war auch ich gezwungen, weiterzumachen und zwar so normal wie möglich. Ich fing an, mich mit der Krankheit zu arrangieren, suchte das Gespräch mit Kindergarten, Grundschule, Freunden, Nachbarn. Je mehr ich über die Krankheit sprach, umso leichter wurde es für mich. Ich beschloss, dass wir trotz der niederschmetternden Diagnose ein schönes Leben haben würden. Der Gedanke an die Lebenserwartung trat in den Hintergrund, bis er für viele Jahre ganz verschwand. Ich hörte auf, nach Forschungsergebnissen zu suchen und konzentrierte mich stattdessen auf das Leben.
Wie ein ganz normales Kind
Immer wieder waren wichtige Entscheidungen zu treffen. Welche Schule ist geeignet, kommt er allein klar, wird er gemobbt werden? Soll er Kortison nehmen oder nicht, wie erkläre ich ihm, warum er so anders ist als seine Spielkameraden? Ab wann wird er einen Rollstuhl benötigen? Viele schlaflose Nächte kamen und gingen und immer wieder war es ausgerechnet mein Sohn, der mir Mut und Kraft gab. Der war fast immer guter Dinge und fröhlich und verhielt sich wie ein ganz normales Kind. Klaglos und wie selbstverständlich nahm er sein Schicksal hin. Ich war beunruhigt, weil ich dachte, er müsse doch nun langsam mal wissen wollen, was mit ihm los sei. Dass er es längst wusste, wurde mir erst viele Jahre später klar.
Frieden machen mit dem Ungeheuer
Und so vergingen die Jahre. Es kamen mehrere Operationen und lange Krankenhausaufenthalte. Die Anzahl der notwendigen Hilfsmittel nahm stetig zu, viele Kämpfe mit der Krankenversicherung mussten ausgetragen werden und immer wieder die Sorge um seine Gesundheit, die stetige Abnahme seiner Muskelkraft, dann der Verlust der Gehfähigkeit. Beatmung, Herzmedikation … Ich sah zu, wie seine Spielkameraden lernten, während er verlernte, und das tat oft weh. Auf der anderen Seite lernte ich, in der Gegenwart zu leben. Und immer gab mir seine Krankheit die Zeit, hineinzuwachsen und mit ihr Schritt zu halten. Ich wuchs mit meiner Aufgabe und machte meinen Frieden mit Duchenne, dem Ungeheuer.
Heute ist mein Sohn ein kluger, höflicher und mitfühlender Mensch, der mich mit seinem umwerfend trockenen Humor immer wieder zum Lachen bringt. Er ist ein Geschenk – mein wunderbarer Duchenne-Sohn!
*Der ungekürzte Originaltext „Mein wunderbarer Duchenne-Sohn“ wurde im Jahrbuch 2018 der Deutschen Muskelschwundhilfe hier veröffentlicht.
Quellen
Christiane Neemann: Mein wunderbarer Duchenne-Sohn. Jahrbuch 2018 der Deutschen Muskelschwundhilfe, S. 31-34.