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Krankheitsbilder

„Mein Lebenszug fährt, und das ist für mich das Wichtigste!“

Fotos: Privat

Unter Myeloproliferativen Neoplasien (MPN) versteht man eine Gruppe von seltenen Erkrankungen des Knochenmarkes. Charakteristisch für diese Krankheitsbilder ist eine gesteigerte Produktion von Blutzellen, was sich in einer Vielzahl von Symptomen äußern kann, die das Leben Betroffener stark beeinträchtigen können. Eine möglichst frühe Diagnose ist entscheidend, um in den Krankheitsverlauf eingreifen zu können.

Zu den MPN zählt auch die Chronische Myeloische Leukämie (CML), bei der es durch eine genetische Veränderung zu einer gehäuften Bildung weißer Blutkörperchen im blutbildenden Knochenmark kommt. In Deutschland erkranken pro Jahr etwa 1.000 bis 1.200 Menschen an CML.1 Harald Schmidt ist von CML betroffen und erzählt uns von seinem Weg zur Diagnose und seinem Leben mit dieser seltenen Form von Blutkrebs.

Von Anfang an wurde ich von allen vorbehaltlos unterstützt: Dafür bin ich meiner Familie und meinen Kolleginnen und Kollegen von Herzen dankbar!

Herr Schmidt, Sie sind von der seltenen Krankheit CML betroffen. Wann haben Sie gemerkt, dass gesundheitlich etwas nicht stimmt, welche Beschwerden traten auf?

Das war etwa 1993, da war ich noch keine 40 Jahre alt. Meine körperliche Leistungsfähigkeit hatte stark nachgelassen. Und wenn ich mich nur leicht verletzt hatte, zum Beispiel beim Rasieren, dauerte es sehr lange, bis diese kleine Schnittwunde verheilt war, und ich bekam schnell blaue Flecken. Nachts schwitzte ich oft so stark, dass ich mitten in der Nacht mein Oberteil wechseln musste. Ich hatte oft ein Druckgefühl im Oberbauch. Aber ich habe nicht genug darauf geachtet und es nicht ernst genommen. Damals gab es ja auch noch kein Internet. Heute würde ich Informationen über das Internet suchen und wäre dann viel früher zum Arzt gegangen.

Wann wurde die Diagnose gestellt und was ging in Ihnen vor, nachdem die Erkrankung festgestellt wurde?

Am 5. Februar 1996 hatte ich tagsüber so starke Oberbauchschmerzen, dass ich direkt nach der Arbeit zu meinem Hausarzt ging. Es wurde ein Blutbild gemacht und mein Arzt war sehr erschrocken, weil meine Leukozytenzahl, also die Zahl der weißen Blutkörperchen, stark erhöht war. Er hat mich noch am selben Abend direkt ins Krankenhaus überwiesen, wo ein Leukozytenwert von 285.000 festgestellt wurde. Normal ist ein Wert zwischen 4.000 und 10.000. Am nächsten Morgen wurde eine Knochenmarkspunktion durchgeführt und der behandelnde Arzt teilte mir die Diagnose mit: Ich hatte CML. Die Oberbauchschmerzen kamen von meiner stark vergrößerten Milz, weil dort viel zu viele weiße Blutkörperchen gespeichert waren.

Auf meine Frage hin sagte mir der Arzt, wenn es schlecht läuft, habe ich noch zwei bis drei Jahre zu leben, wenn es gut läuft, noch fünf Jahre. Mein erster Gedanke war: Ich werde meine Kinder nicht mehr aufwachsen sehen. Sie waren damals 9 und 5 Jahre alt. Wir hatten gerade gebaut und ich dachte nur: Meine Frau wird mit allem allein sein, ich werde nicht mehr da sein. Dieser Gedanke war schrecklich und bedeutete einen brutalen und schmerzhaften Eingriff in meine Lebensplanung und natürlich auch in die Zukunft meiner Familie.

Sie leben nun aber schon seit über 28 Jahren mit CML. Was ist in dieser langen Zeit passiert und welche Rolle spielt Ihre Erkrankung jetzt in Ihrem Alltag?

Zu Beginn meiner Behandlung war das primäre Ziel, meine Leukozytenwerte deutlich zu senken. Leider waren die damaligen Medikamente für meine Tumorlast nicht stark genug, so dass nur eine Knochenmarktransplantation in Frage kam. Ende 1996 wurde dann eine autologe Stammzelltransplantation (mit meinen eigenen Stammzellen) durchgeführt, die leider fehlschlug.

Danach wurde ich zunächst mit den damals verfügbaren Medikamenten weiterbehandelt. Im Jahr 1999 verschlechterte sich die Situation, so dass eine allogene Stammzelltransplantation, also eine Behandlung mit Stammzellen eines Spenders, notwendig wurde. Eine weitere allogene Stammzelltransplantation folgte im Frühjahr 2000. Auch diese Transplantationen waren nicht erfolgreich.

In dieser Zeit hatte sich ein Bild in meinem Kopf festgesetzt: Ich fühlte mich wie in einem Zug. Jede der drei Transplantationen war wie eine Weiche, die meinen Lebenszug wieder in die richtige Richtung lenken sollte. Doch alle Behandlungen schlugen fehl. Das war der absolute Tiefpunkt für mich und meine Familie. So wie es damals aussah, war ich austherapiert. Mein Lebenszug näherte sich der Endstation. Ende 2000 bekam ich ein neues Medikament, einen sogenannten Tyrosinkinase-Hemmer. Damals wusste ich noch nicht, wohin mich diese neue Weiche führen würde. Aber viel wichtiger war: Mein Zug fuhr weiter. In den folgenden Jahren wurde ich immer wieder mit verschiedenen Tyrosinkinase-Hemmern behandelt, da die vorherigen Medikamente nicht dauerhaft wirkten.

Also immer wieder neue Weichen, die meinen Lebenszug am Fahren hielten. Seit der Umstellung auf einen weiteren Tyrosinkinase-Hemmer im Frühjahr 2023 steht meine CML-Erkrankung nicht mehr im Vordergrund. Die damit erreichten Blutwerte sind für meine Verhältnisse sehr gut und ich werde wahrscheinlich eine normale Lebenserwartung haben. Nach einer ursprünglichen Überlebensprognose von maximal fünf Jahren und einer unglaublich schweren Zeit zu Beginn meiner Erkrankung ist das einfach eine wunderbare Perspektive für mich und meine Familie. Ich habe meine Kinder aufwachsen sehen und bin nach 28 Jahren immer noch da! Dafür bin ich unglaublich dankbar.

Welche Rolle spielt für Sie der Austausch mit anderen Betroffenen, z.B. über Patientengruppen oder -veranstaltungen?

Für mich ist das eine der wichtigsten Säulen, wenn es um mein Leben mit CML geht. Die erste und immer noch wichtigste Plattform ist „Leukämie Online“. Dort gibt es sehr viele Informationen, vor allem aber Foren zu den verschiedenen Leukämieformen.

Dort können sich Betroffene austauschen und ihre Sorgen und Nöte teilen. Ich besuche aber auch andere Patiententreffen, zum Beispiel die „MPN-Patiententage“, um meine Erfahrungen mit anderen Betroffenen zu teilen. Denn wenn man heute neu erkrankt, sind die Diagnosewege zum Glück kürzer und man kann schneller mit der inzwischen wirksamen Therapie mit Tyrosinkinase-Hemmer beginnen. Aus eigener Erfahrung mit der Erkrankung weiß ich, dass gerade die Anfangsphase sehr schwierig und belastend ist. Die Möglichkeit der Patiententreffen sollte daher unbedingt genutzt werden.

Aus Ihrer Sicht als Patient: Was ist seitens der Medizin, aber auch seitens des persönlichen Umfeldes wichtig, damit Betroffene ihren Alltag bestmöglich bewältigen können?

Ich wünsche mir ein offenes Ohr für die Betroffenen und viel Einfühlungsvermögen bei den behandelnden Ärzten. Schließlich geht es nicht um ein gebrochenes Bein, sondern um Krebs und damit um eine lebensbedrohliche Erkrankung.

Da braucht man als Patient einfach ein stabiles Vertrauensverhältnis zu seinen Ärzten und dem gesamten Behandlungsteam im Hintergrund. Ich möchte allen Betroffenen Mut machen, offen mit ihrer Erkrankung umzugehen und sich nicht zu verstecken. Denn das Umfeld kann uns Patienten nur unterstützen, wenn wir über unsere Erkrankung sprechen. Natürlich leidet vor allem das familiäre Umfeld mit.

Was möchten Sie Betroffenen noch mit auf den Weg geben?

Auch hier hilft nur Offenheit, um mit der Situation gut umgehen zu können. Das gilt auch für das berufliche Umfeld. Von Anfang an wurde ich von allen vorbehaltlos unterstützt: Dafür bin ich meiner Familie und meinen Kolleginnen und Kollegen von Herzen dankbar! Lassen Sie sich bei Krebserkrankungen, und dazu gehört auch die CML, von der wissenschaftlichen Medizin behandeln. Schließlich geht es um Ihr Leben. Denn Sie sitzen in dem Zug, der hoffentlich den Zielbahnhof erreicht, den Sie sich wünschen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gute Fahrt.

Quellenangaben

1 Rohrbacher et al 2009

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