Der Austausch mit anderen Familien ist ein Geschenk. Man bekommt eine zweite, große Familie, die einem stets Rückhalt gibt.
Nadine Benzler
Mutter eines betroffenen Kindes, Mitarbeiterin auf Minijob-Basis und ehrenamtliche Mitarbeiterin beim Dravet-Syndrom e. V.
Wenn Kinder das Familienglück perfekt machen, freuen sich Eltern auf jeden Entwicklungsschritt und Meilenstein. Doch wenn Kinder Auffälligkeiten zeigen, wachsen die Sorgen. So war es auch bei Familie Benzler, deren ältere Tochter am Dravet-Syndrom erkrankt ist, einer seltenen Form der Epilepsie. Wir sprachen mit Nadine Benzler über diese tückische Erkrankung und wie man als Familie mit einer solchen Diagnose umzugehen lernt.
Frau Benzler, Ihre ältere Tochter kam mit einem seltenen Gendefekt auf die Welt, sie hat das Dravet-Syndrom. Wann wurde die Diagnose gestellt und was hat das bei Ihnen als Eltern ausgelöst?
Unsere Tochter hat sich zunächst völlig normal entwickelt. Mit sieben Monaten ist sie mir im Planschbecken entglitten, weil sich ihr Körper krampfartig versteifte. Panisch bin ich mit ihr ins Klinikum gefahren: Ich dachte, mein Kind stirbt. Das war ihr erster epileptischer Anfall. Nach weiteren Untersuchungen und einem MRT wurde uns gesagt, dass nichts zu finden sei. Am nächsten Tag hatte sie schon den nächsten Krampfanfall. Wir sind dann an eine großartige Ärztin geraten, die mit uns auf Ursachensuche ging. Sie vermutete eine Form der Epilepsie und startete mit einer Medikation. Nach anderthalb Jahren „trial and error“ verhärtete sich der Verdacht auf das Dravet-Syndrom. Unsere Ärztin veranlasste einen Gentest, der die Diagnose bestätigte, als unsere Tochter zwei Jahre alt war. Die Diagnose hat uns den Boden unter den Füßen weggerissen.
Wie äußert sich die Erkrankung und was sind für Ihr Kind, aber auch für Sie als Familie die größten Herausforderungen im Umgang mit der Erkrankung?
Die Anfälle können sehr unterschiedlich aussehen. Manche Anfälle sind sehr kurz, die Kinder halten dann kurz inne und sind geistig abwesend (sog. Absencen). Manche Anfälle äußern sich durch kurze unwillkürliche Muskelzuckungen z. B. der Arme (sog. Myoklonien). Und dann gibt es die sog. generalisierten Anfälle: Die Kinder verlieren komplett das Bewusstsein und versteifen sich komplett oder sacken in sich zusammen, was aufgrund der Unfallgefahr sehr gefährlich werden kann. Diese Anfälle gehen dann meist auch in Zuckungen über. Bei unserer Tochter pulsieren dabei auch häufig nur die Pupillen. Manche Kinder haben auch Serienanfälle, also mehrere kurz aufeinanderfolgende Anfälle, die über Stunden oder Tage anhalten können. Hinzu kommen dann noch Begleiterscheinungen wie Gleichgewichtsstörungen und Gangunsicherheiten. Unsere Tochter ist nun 14 Jahre alt und hat ein bis zwei Anfälle pro Monat, die meist ganz unvermittelt auftreten. Sie selbst bekommt die Krampfanfälle gar nicht mit. Sie fragt danach meist: „Mama, war mein Gewitter wieder da?“ Sie merkt nun aber immer mehr, dass sie anders ist als andere. Durch die Erkrankung ist sie kognitiv eingeschränkt und nicht auf dem Stand einer gesunden 14-Jährigen. Mittlerweile geht sie deshalb auf eine Förderschule für geistige Entwicklung. Die größte Herausforderung für uns als Familie ist es, den Mut nie zu verlieren und immer weiterzumachen. Unsere Tages- und Wochenplanung richtet sich nach unserer Tochter, wir sind immer abrufbereit. Da muss natürlich auch häufig ihre kleine Schwester (8 Jahre) zurückstecken.
Das Dravet-Syndrom ist bisher nicht heilbar, aber es gibt verschiedene Behandlungsansätze. Wie und wo wird Ihr Kind versorgt und welche Rolle spielt die Therapie in Ihrem Alltag?
Sie wird in einem sozialpädiatrischen Zentrum behandelt, das leider über 100 km entfernt ist. Dort sind wir zweimal pro Jahr zur Überprüfung ihres Zustandes. Wenn sich ihr Zustand verschlechtert, sind wir natürlich häufiger dort. Die alltägliche Versorgung findet über den Kinderarzt statt. Morgens und abends muss sie Tabletten einnehmen, um epileptischen Anfällen möglichst vorzubeugen. Zudem haben wir immer Akutmedikamente zur Hand, wenn ein Anfall auftritt. Früher waren wir noch in logopädischer und heilpädagogischer Behandlung, später gingen wir zum therapeutischen Reiten. Letzteres mussten wir selbst finanzieren, weshalb wir uns irgendwann für ein eigenes Pferd entschieden haben. So hat die ganze Familie was davon (lacht).
Welchen Stellenwert hat für Sie die Vernetzung mit anderen betroffenen Familien?
Wir haben uns direkt zu Beginn eine Selbsthilfegruppe gesucht, in der sich Eltern von Kindern mit Epilepsie vernetzt haben. Dieser Kontakt und dieses Netzwerk haben uns sehr geholfen, weil man merkt: Wir sind nicht allein! Diese Gruppe hat mir dann auch den Kontakt zum Dravet-Syndrom e. V. vermittelt. Der Austausch mit anderen Familien ist ein Geschenk. Man bekommt eine zweite, große Familie, die einem stets Rückhalt gibt. Zudem kann man gemeinsam viel voranbringen und die Forschung mit dem geballten Wissen der Elternschaft unterstützen. Das ist besonders für uns vom Dravet-Syndrom e. V. auch ein ganz wichtiges Anliegen.
Wie blicken Sie in die Zukunft und was wünschen Sie sich für Ihr Kind, aber auch für andere betroffene Familien?
Ich versuche, nicht allzu weit in die Zukunft zu blicken, weil sie zu ungewiss ist. Die Angst, dass unser Kind bei einem schweren Anfall aufhört zu atmen, oder dass ihr Körper aufgrund der Erkrankung ohne erkennbare Ursache plötzlich aufgibt, ist ein ständiger Begleiter. Denn die SUDEP*-Gefahr ist bei Dravet-Kindern erhöht. Was ich mir deswegen sehr wünsche, ist, dass eine Behandlungsmöglichkeit gefunden wird, mit der zumindest die schweren Anfälle verhindert werden können.
Betroffenen Eltern möchte ich unbedingt mitgeben, dass auch sie sich therapeutische Unterstützung suchen sollten, um mit der Situation zurecht zu kommen.
*SUDEP = sudden unexpected death in epilepsy, der plötzlich auftretende Tod eines Epilepsie-Betroffenen, für den sich keine andere Ursache finden lässt
Der Verein Dravet-Syndrom e. V.
Der gemeinnützige Verein setzt sich leidenschaftlich für die Unterstützung von DravetBetroffenen und ihren Familien ein und macht sich stark für mehr Aufklärung und Forschung. Die alle zwei Jahre stattfindenden Familienkonferenzen und die regelmäßigen regionalen Familientreffen bringen betroffene Familien zusammen und bieten Möglichkeiten zum Austausch.
Unter dravet.de/blog berichtet jeden Monat eine Famile aus ihrem Leben mit Dravet-Syndrom.
