Etwa 80% der seltenen Erkrankungen haben eine genetische Ursache. Die medizinische Genetik spielt daher eine entscheidende Rolle bei der Erforschung, Diagnostik und Therapie dieser Erkrankungen. Wir sprachen mit Frau Prof. Dr. Holinski-Feder vom Medizinisch Genetischen Zentrum München (MGZ) über die Möglichkeiten für die Versorgung von Betroffenen.
Prof. Dr. Holinski-Feder
Leiterin des Medizinisch Genetischen Zentrums München
Welche Rolle spielt die Genetik, wenn es um die Diagnose seltener Erkrankungen geht?
Die Genetik spielt eine außerordentlich bedeutende Rolle, da ein erheblicher Teil der seltenen Erkrankungen auf genetische Ursachen zurückzuführen ist. Obwohl noch nicht alle genetischen Defekte nachweisbar sind, gelingt dies bei mindestens 60 Prozent aller Fälle. Die enorme Vielfalt in der menschlichen Genetik ermöglicht es, sich vorzustellen, wie verschiedene Defekte unabhängig vom Alter zu einer Vielzahl von unterschiedlichsten Erkrankungen führen können.
Wann ist eine genetische Testung sinnvoll?
Die genetische Testung spielt eine entscheidende Rolle, insbesondere bei Kindern mit Entwicklungsverzögerungen, angeborenen Auffälligkeiten oder neuromuskulären Erkrankungen wie Epilepsie oder Muskelschwäche. Ein erheblicher Anteil dieser Erkrankungen hat eine genetische Ursache, weshalb eine genetische Diagnostik für viele dieser Erkrankungen mittlerweile als erste Maßnahme empfohlen wird. Dies ermöglicht oft eine schnellere und genauere Diagnose, wodurch den betroffenen Kindern zahlreiche zusätzliche Untersuchugen und eine langwierige Phase der Ungewissheit erspart bleiben. Genetische Erkrankungen können aber auch erst im Erwachsenenalter auftreten. Das klinische Spektrum ist breit, es reicht von neuromuskulären Erkrankungen bis hin zu erblichen Tumorerkrankungen. Bei Verdacht auf eine genetische Erkrankung sind Gentests auch wegen der Therapieentscheidung sinnvoll, um die wirksamste Behandlung zu ermitteln und das Risiko von Therapieversagen zu minimieren. Auch bei Kinderwunsch werden immer mehr genetische Testungen in Anspruch genommen um festzustellen, ob die Eltern genetische Veranlagungen haben, die zu einer rezessiven Erkrankung beim Kind führen könnten.
Ist die Diagnose genetisch bestätigt, stehen Betroffene oft vor neuen Herausforderungen z.B. bezüglich der Versorgung. Welche Rolle spielt das MGZ?
Sobald Patienten eine genetische Diagnose erhalten haben, ist es unser Auftrag, ihnen ein umfassendes Verständnis des Krankheitsbildes zu vermitteln und über die Bedeutung ggfs. auch für weitere Familienmitglieder zu sprechen. In enger Zusammenarbeit mit den betreuenden Kliniken stellt das MGZ München eine wertvolle Ressource dar, die bei der Beratung und Aufklärung über den Krankheitsverlauf unterstützt.
Eine genetische Testung ermöglicht oft eine schnellere und genauere Diagnose, wodurch den betroffenen Kindern zahlreiche zusätzliche Untersuchungen und eine langwierige Phase der Ungewissheit erspart bleiben.
Unsere Fachärzte weisen auf aktuelle Erkenntnisse, Studien und neue Entwicklungen hin, um die Patienten bzw. deren Familien auf dem neuesten Stand zu halten. Darüber hinaus unterstützen wir sie bei der Navigation durch den oft komplexen Dschungel von Ämtern und behördlichen Angelegenheiten.
Welche Chancen bietet die Humangenetik bei der Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen?
Die Humangenetik ist ein sich rasch entwickelndes Gebiet, und die genetische Diagnostik ist von großer Bedeutung. Erwachsene Patienten und Eltern von betroffenen Kindern finden Erleichterung durch eine klare Diagnose. Kontinuierliche Informationen von Fachärzten über die spezifische Erkrankung sind für die bestmögliche Betreuung essenziell. Die genetische Diagnostik unterstützt die Bewältigung der Situation und Selbsthilfegruppen bieten den betroffenen Familien wichtige Unterstützung. Auch hilft die Identifizierung genetischer Ursachen bei seltenen Erkrankungen dabei, das Verständnis dieser Erkrankungen zu vertiefen und neue Behandlungsansätze zu erforschen.
Insgesamt eröffnet die Humangenetik neue Wege für eine verbesserte Versorgung und Betreuung von Menschen mit seltenen Erkrankungen.
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