Als Kind verlor Miriam Höller* innerhalb weniger Monate ihr Sehvermögen. Sie leidet an der seltenen Erkrankung Lebersche Hereditäre Optikus-Neuropathie (LHON). Die 23-Jährige gibt persönliche Einsicht zum langen Weg der Diagnose dieser Augenkrankheit und zu den Folgen für ihr Leben.
Die Symptome meiner Erkrankung LHON begannen bei mir im November 2011, als ich 16 Jahre alt war. Ich ignorierte sie erst. Eine leichte Sehschwäche fing auf einem Auge an. Ich habe deshalb am Computer den Zoom einfach um zehn Prozent höher gestellt. Als ich mich Tage später schminken wollte und das eine Auge schloss, war alles mit einem Mal ganz schön dunkel. Selbst da vermutete ich, dass ich wohl beim Schlafen falsch gelegen hatte. Das ginge wieder weg.
Der Augenarzt war bei meinem Anruf schockiert. Ich solle doch bitte sofort vorbeikommen. Dann ging die Odyssee los. Weil viele Ärzte Alarm gaben, aber niemand meine Krankheit diagnostizieren konnte. Ich war bei verschiedenen Augenärzten. Beim Neurologen. Immer wieder im Krankenhaus. Mir wurde über das Rückenmark Hirnwasser entnommen. Ich erhielt eine Plasmapherese, bei der mein Blut ausgetauscht wurde. Ich bekam häufig Cortison. Aber nichts zeigte Wirkung. Inzwischen sah ich die Farbe meines roten Handys braun. Im Februar 2012 bemerkte ich während des Karnevals, dass ich auch auf dem anderen Auge nicht mehr gut sehen konnte. Anfang März machten Ärzte schließlich den entscheidenden genetischen Test, mit der Diagnose LHON. Rückblickend erinnere ich mich, dass auch meine Oma und mein Onkel Probleme mit den Augen hatten. Erblich bedingt kann es mütterlicherseits in der Familie andere LHON-Fälle geben. Deshalb ist die rechtzeitige Diagnose bei LHON für Betroffene über Gentests möglich.
Ich dachte, dass die Sehschwäche auf diesem Stand bleibt und nicht schlimmer wird. Dabei ging, typisch für LHON, die Sehstärke weiter rapide herunter. Eine geeignete oder erfolgversprechende Therapie gab es damals für mich nicht. Hilfsmittel zum Lesen, wie einen Lupenstein, holte ich im April gar nicht mehr ab, weil sie sowieso nicht halfen. Für mich brach eine Welt zusammen. Es begann die Phase des Selbstmitleids. Selbst scheinbare Kleinigkeiten waren nicht mehr möglich. Mein geliebtes Zeichnen oder Puzzeln fielen weg. Ich war gerade in der 11. Klasse für mein Fachabitur an der Gestaltungsfachhochschule und wollte eigentlich Mediendesignerin werden. Ich konnte kein Buch und nichts mehr am Computer lesen. Keine SMS an Freunde senden.
Ich saß auf dem Bett und starrte die Wand an. Irgendwann brauchte ich psychologische Betreuung. Immerhin hatte ich innerhalb von wenigen Monaten mein Augenlicht verloren. Ich schmiss die Schule, denn mein Berufsziel hatte sich erledigt. Stattdessen sollte ich auf ein Internat. Ich wollte aber nun nicht auch noch mein Elternhaus in Paderborn verlassen.
Meine Familie hat mir in der Zeit Kraft gegeben. Irgendwann fing das Googeln an. Meine Mutter recherchierte, was Blinde denn so tun und entdeckte einen blinden Surfer. Das fand ich spannend. Wir sagten uns: Das können wir auch. Wir kauften ein Skateboard samt Ausrüstung und ich lernte am Wochenende auf einer Anlage skaten. Meine Mutter brachte mir für ein eigenständiges Leben die banalsten Dinge bei, zum Beispiel wie man im Supermarkt einkauft.
Heute bin ich im Sinne des Gesetzes blind. Ich sehe im Grunde nicht mehr viel. Ich wohne in Essen, wo ich als Blinder auf die mobile Anbindung an viele öffentliche Verkehrsmittel vertrauen kann. Ich lebe in meiner eigenen Wohnung und komme da auch mit dem täglichen Allerlei ganz gut klar. Mein Abitur hatte ich noch an der Blindenschule in Soest abgeschlossen. Deshalb mache ich gerade meinen Bachelor in Sozialer Arbeit. Aktuell bin ich erfolgreich bei verschiedenen Bewerbungsgesprächen eingeladen und muss mich entscheiden, wo ich als Sozialarbeiterin tätig sein möchte. Auch Soziale Arbeit kann kreativ sein und macht mir großen Spaß.
Privat erlauben mir meine Freunde ein barrierefreies Leben. Das ist meine Art der Therapie. Wenn in unserem Karnevalsverein etwas auf der Bühne passiert, sitzt eine Freundin neben mir und beschreibt es detailliert. Ich erlebe so, was andere erleben. Und das Gefühl von Integration.
*Name von der Redaktion geändert
Fakten zur Leberschen Hereditären Optikus-Neuropathie (LHON):
1. An der Leberschen Hereditären Optikus-Neuropathie (LHON) leiden ungefähr zwei von 100.000 Menschen in Europa (Prävalenz).
2. Wie auch bei anderen seltenen Erkrankungen müssen viele Patienten einen langen Weg bis zur Diagnose durchlaufen.
3. Schätzungen zufolge erkranken jährlich etwa neue 80 Patienten an LHON in Deutschland (Inzidenz).
4. Mit einem einfachen Gentest kann bei Verdacht auf eine LHON die Diagnose aber gesichert und festgestellt werden Dieser Gentest wird in der Regel von den Krankenkassen bezahlt.
5. Wird die seltene Erkrankung nicht rechtzeitig erkannt, können Betroffene innerhalb kurzer Zeit erblinden.
6. Durchschnittlich verbleiben den meisten Betroffenen etwa drei Monate nach dem Auftreten der ersten Symptome nicht mehr als zehn Prozent ihrer Sehkraft.
7. Die Krankheit trifft vor allem junge Männer zwischen der zweiten und dritten Lebensdekade. Sie kann jedoch auch jüngere oder ältere Männer betreffen sowie in Einzelfällen auch Frauen.
8. Die Lebersche Hereditäre Optikus-Neuropathie (LHON) ist nach dem deutschen Augenarzt Theodor von Leber benannt, der die Krankheit erstmals 1871 beschrieb.
9. Seit Oktober 2015 gibt es erstmals einen zugelassen Wirkstoff zur Therapie der LHON