Wenn Kinder das Familienglück perfekt machen, freuen sich Eltern auf jeden Entwicklungsschritt und Meilenstein. Entwickeln sich Kinder jedoch nicht in dem Tempo, wie sie es sollten, zeigen motorische oder mentale Auffälligkeiten oder machen gar Rückschritte, werden Eltern und Kinderärzte spätestens bei den Kindervorsorgeuntersuchungen darauf aufmerksam. Auch wenn es dafür verschiedenste Ursachen geben kann, können in manchen Fällen seltene Erkrankungen die Ursache sein. Zu ihnen gehört auch der Arginase-1-Mangel, der zu den Harnstoffzyklusdefekten zählt und unbehandelt verheerende Folgen haben kann. Prof. Daniela Karall hat sich auf Seltene Stoffwechselstörungen spezialisiert: Mit ihr sprachen wir über diese tückische Erkrankung, wie man sie möglichst früh feststellen kann und welche Behandlungsmöglichkeiten es heute gibt.
Prof. Daniela Karall
stv. Direktorin der Universitätsklinik für Pädiatrie I an der Medizinischen Universität Innsbruck, Leiterin des Bereiches Angeborene Stoffwechselstörungen, Obfrau des Forums Seltene Erkrankungen, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde
Je früher man die Erkrankung entdeckt,
umso schneller kann man mit der Behandlung beginnen.
Frau Prof. Karall, Sie behandeln u. a. Patienten mit dem seltenen angeborenen Arginase1-Mangel. Was passiert bei der Erkrankung im Körper Betroffener?
Der Arginase-1-Mangel ist von den sechs Harnstoffzyklusdefekten, die wir kennen, der seltenste und hat eine Häufigkeit von nur einer betroffenen Person unter 750.000 bis 900.000 Menschen. Betroffene weisen eine Mutation im Arginase-1-Gen auf, was dazu führt, dass das Enzym Arginase-1 in zu geringen Mengen oder gar nicht produziert wird. Dieses Enzym benötigt der Körper aber, um Arginin und Arginin-verwandte Stoffwechselprodukte abzubauen. Die Besonderheit des Arginase-1-Mangels ist, dass Arginin nicht nur Teil des Harnstoffzyklus, sondern z. B. auch des Energiestoffwechsels ist.
Harnstoffzyklusdefekte:
Was sind Harnstoffzyklusdefekte?
Harnstoffzyklusdefekte sind eine Gruppe von erblich bedingten Stoffwechselerkrankungen, bei denen der Körper das giftige Ammoniak, das beim Abbau von Eiweiß entsteht, nicht ausreichend in Harnstoff umwandeln kann. Dadurch steigt der Ammoniakspiegel im Blut gefährlich an und kann zu schweren neurologischen Schäden führen.
Ursachen:
Diese Störungen werden durch genetische Mutationen verursacht, die zu einem Mangel an bestimmten Enzymen führen, die für den Harnstoffzyklus und weitere Stoffwechselvorgänge notwendig sind.
Symptome:
Die Symptome können sehr unterschiedlich sein und reichen von leichten, unspezifischen Beschwerden wie Müdigkeit und Erbrechen bis hin zu schweren neurologischen Störungen wie Bewusstlosigkeit und Krampfanfällen. Besonders bei Neugeborenen und Säuglingen können diese Erkrankungen lebensbedrohlich sein.
Diagnose:
Die Diagnose erfolgt in der Regel durch eine Blutuntersuchung, bei der der Ammoniakspiegel bestimmt wird. Weitere Untersuchungen (z. B. ein Aminosäurenprofil oder eine genetische Analyse) können zur Bestätigung der Diagnose beitragen.
Therapie:
Die Behandlung von Harnstoffzyklusdefekten zielt darauf ab, den Ammoniakspiegel zu senken und die Auswirkungen des erhöhten Ammoniakspiegels zu minimieren. Dazu gehören eine eiweißarme Ernährung, Medikamente und in schweren Fällen eine Lebertransplantation.
Gibt es ein bestimmtes Alter, in dem Betroffene üblicherweise auffällig werden und wie sehen die Symptome aus?
Die Symptome von Kindern und Jugendlichen mit Arginase-1-Mangel haben zwei Häufigkeitsgipfel. Der erste findet sich im Neugeborenenalter, wobei die Symptome hier auf eine Erhöhung von Ammoniak zurückzuführen sind. Weil Arginase fehlt, sammelt sich Ammoniak als Abbauprodukt an. Staut sich Ammoniak an, ist das giftig für die Organe, insbesondere für das Gehirn. Das erste Symptom bei Neugeborenen ist häufig ein hyperammonemisches Koma, beginnend mit Bewusstseinsstörungen bis hin zu einer Multisystem-Erkrankung. Diese hyperammonemischen Krisen können auch später noch auftreten, sind aber mit zunehmendem Alter der Kinder seltener. Das hat zwei Gründe: Erstens, weil man die Diagnose dann idealerweise bereits kennt, und zweitens, weil man die Stoffwechselstörung therapiert.
Der zweite Häufigkeitsgipfel hat etwas mit dem erhöhten Argininspiegel zu tun. Hier geht es um die anderen Stoffwechselwege im Körper, bei denen Arginin beteiligt ist. Das äußert sich in Form einer fortschreitenden ZerebralParese, die Kinder zeigen frühestens im Kindergartenalter eine spastische Lähmung, also einen erhöhten Tonus zuerst der unteren Extremitäten. Später können auch die oberen Extremitäten betroffen sein. Sie haben zunehmende Geh- und Koordinationsprobleme, bis sie die Gehfähigkeit verlieren und auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Das ist für die betroffenen Kinder und ihre Familien absolut tragisch.
Es gibt auch Kinder, die nur die neurologische Beteiligung zeigen, ohne dass sie jemals eine hyperammonemische Krise hatten. Wenn diese Betroffenen im Neugeborenenalter keine Symptome zeigen, jedoch im Laufe ihres Lebens eine neurologische Symptomatik entwickeln, kann es sein, dass sie länger oder gänzlich als Arginase1-Mangel-Patienten unentdeckt bleiben. Wenn ein betroffenes Kind nicht behandelt wird, kann es zu einer körperlichen und geistigen Entwicklungsverzögerung kommen, und die neurologische Symptomatik tritt mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit im späteren Leben ein.
Wo liegen die Herausforderungen, wenn es um die Diagnose der Erkrankung geht und wie kann sie zweifelsfrei festgestellt werden?
Das Wichtigste ist, dass man bei der eben genannten Symptomkonstellation überhaupt an das mögliche Vorliegen einer angeborenen Harnstoffzyklusstörung denkt, es braucht also sehr viel mehr Aufmerksamkeit für diese Erkrankungen. Denn wenn man einen entsprechenden Verdacht hat, ist die Sicherung der Diagnose nicht schwierig. Dafür müssen zunächst die Aminosäuren im Plasma bestimmt werden. Bei Betroffenen ist der Argininwert deutlich erhöht: Der Normwert bei gesunden Menschen liegt bei bis zu 120 Mikromol pro Liter (µmol/l) im Blut, bei Patienten mit Arginase-1-Mangel kann der Wert auch mal bei 500 bis über 1000 liegen. Diese Ergebnisse können mit einer genetischen Analyse gesichert werden, indem man das ARG1-Gen analysiert. Liegt dort eine Mutation vor, ist die Diagnose zweifelsfrei gestellt.
Warum ist eine möglichst frühe Diagnose so wichtig, und wäre aus Ihrer Sicht eine Aufnahme der Erkrankung in das Neugeborenen-Screening sinnvoll?
Tatsächlich ist der Arginase-1-Mangel in einigen Ländern bereits seit etlichen Jahren im Neugeborenen-Screening inkludiert, da die Symptome sehr unspezifisch sein können, wir aber eine Therapiemöglichkeit haben. Das ist oft die klassische Konstellation für Erkrankungen, die man in ein Screening aufnimmt: Dass es eine Behandlungsmöglichkeit mit gutem Behandlungsergebnis gibt.
Die Aufnahme in das Neugeborenen-Screening halte ich also auf jeden Fall für sinnvoll, und technisch wäre das auch machbar. Denn je früher man die Erkrankung entdeckt, umso schneller kann man mit der Behandlung beginnen.
Wie sehen die derzeitigen Behandlungsmöglichkeiten aus und wie wirken sie sich auf die Lebensqualität Betroffener aus?
Die Standardbehandlung besteht in einer Eiweißdefinierten Ernährung, bei der man darauf achtet, dass die Arginin-Zufuhr nicht durch die Ernährung noch erhöht wird. Zudem kann man Betroffenen sog. Ammoniak-Scavenger verabreichen: Das sind orale Medikamente, die das Ammoniak aus dem Blutkreislauf abfangen und dadurch das Blut entgiften.
Seit fünf Jahren haben wir für den Arginase-1-Mangel eine Enzymtherapie zu Verfügung: Durch wöchentliche subkutane Spritzen des Medikamentes (Pegzilarginase) wird das Arginin im Blut abgebaut und der Argininspiegel unter 200 µmol/l gesenkt.
Die zuvor genannte eiweißarme Diät ist eine sehr einschränkende Diät, die die Symptome zwar verlangsamt, aber nicht verhindert. Deswegen setzen wir große Hoffnungen auf die Enzymtherapie, da diese die neurologischen Symptome abbremsen und im besten Falle sogar verhindern kann. Damit werden potenziell auch Folgeschäden verhindert und den Betroffenen ein Plus an Lebensqualität geschenkt.
Wo finden Betroffene und ihre Angehörigen Spezialisten, die auf die Behandlung von Seltenen Stoffwechselerkrankungen wie Arginase-1-Mangel spezialisiert sind?
Die Mediziner und Behandlungsnetzwerke, die sich mit angeborenen Stoffwechselstörungen beschäftigen, sind in sogenannten Stoffwechsel-Zentren organisiert. Wenn eine Familie den Weg in ein solches Zentrum gefunden hat, läuft die Betreuung meist gut. Der Weg dorthin ist oft nicht ganz einfach. Speziell wenn man an eine sehr seltene Erkrankung wie den Arginase-1-Mangel denkt und Betroffene „nur“ neurologisch auffällig sind, ist es sehr wichtig, unsere Kollegen in der Niederlassung oder in peripheren Krankenhäusern darauf aufmerksam zu machen, dass die Symptome ggf. auch zu einer angeborenen Stoffwechselstörung passen können. Nur so kann schneller eine Überweisung oder Weiterleitung in ein spezialisiertes Zentrum stattfinden, wo die Expertise gebündelt wird und die Therapie in die Wege geleitet werden kann.
Wir glauben, wie bei eigentlich allen seltenen Erkrankungen, an das Credo: „Nicht der Patient soll reisen, sondern die Expertise“. Die generelle Patienten-Betreuung sollte so gut und Wohnort-nahe wie möglich erfolgen. Das ist übrigens auch ein Vorteil der subkutanen Enzymtherapie, denn das Medikament kann auch zuhause verabreicht werden.
Zur Website des Bereiches Angeborene Stoffwechselstörungen der Med. Universität Innsbruck gelangen Sie hier:
kinderklinik.tirol-kliniken.at/stoffwechselstoerungen
Mehr zum Forum für Seltene Erkrankungen unter:
www.forum-sk.at
Mehr zur Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde:
www.paediatrie.at