Derzeit gibt es ca. 200 Arzneimittel zur Behandlung eines Seltenen Leidens (Orphan Drug). Etwa 8.000 verschiedene Seltene Erkrankungen sind bekannt. Der therapeutische Bedarf ist also weiterhin groß! Orphan Drugs können erheblich zu einer Verbesserung der Lebensqualität von Patientinnen und Patienten beitragen. Sie wirken sich positiv auf den nachfolgenden Pflege- und Behandlungsaufwand der Betroffenen aus.
Dr. Matthias Wilken
Geschäftsführer Market Access, Märkte und Versorgung beim BPI (Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V.)
Foto: BPI/Kruppa
Stabile politische Rahmenbedingungen sind für die Arzneimittelentwicklung das A und O.
Neue Therapien stehen Patientinnen und Patienten in Deutschland so schnell und umfassend zur Verfügung wie in keinem anderen europäischen Staat. Eine gute Nachricht – denn ein rascher Zugang ist im Sinne der Patientinnen und Patienten. Pharmazeutische Unternehmen tun alles dafür, dieser Verpflichtung auch in Zukunft nachzukommen. Denn Menschen mit einer Seltenen Erkrankung haben das gleiche Recht auf eine gute Gesundheitsversorgung wie Menschen mit häufigen Erkrankungen.
Das Besondere bei der Forschung im Bereich der Seltenen Erkrankungen ist, dass die Erkenntnisse weit über ihr Indikationsgebiet hinaus strahlen. Das gewonnene Wissen aus dem Krankheitsgeschehen einer Seltenen Erkrankung lässt sich meist auch auf andere Krankheitsbilder übertragen. Je mehr Faktoren eines Krankheitsverlaufs bekannt sind, umso eher können pharmazeutische Unternehmen präzise Therapien entwickeln. Forschung an Seltenen Erkrankungen ist also auch „das Labor“ für häufige Erkrankungen – es profitieren mittelbar auch Menschen mit anderen Erkrankungen.
Wichtig ist, dass der Arzneimittelmarkt preispolitisch so aufgestellt bleibt, dass es Unternehmen möglich ist, Therapien für nur wenige Patientinnen und Patienten zu entwickeln. Stabile politische Rahmenbedingungen sind dafür das A und O.
Leider weisen aktuelle Entwicklungen in eine andere Richtung: Auf europäischer Ebene werden Einschnitte im Anreizsystem zur Entwicklung von Orphan Drugs diskutiert. Und auch auf nationaler Ebene wird der sozialrechtliche Sonderstatus immer wieder in Frage gestellt.
Da im Vergleich zu häufigen Erkrankungen wie Diabetes oder Hypertonie (Bluthochdruck) nur sehr wenige Patientinnen und Patienten diese speziellen Arzneimittel brauchen, entwickelt die pharmazeutische Industrie Orphan Drugs unter ganz besonderen Bedingungen. Forschende stehen bei der Vorbereitung und Durchführung von Studien vor großen Herausforderungen. Das fängt schon bei der Datengenerierung an: Meist ist das Wissen zu der jeweiligen Erkrankung sehr begrenzt. Die Patientenpopulationen sind klein, heterogen und geografisch oft weit verteilt. Die Rekrutierung von Probanden ist daher sehr schwierig und kostenintensiv – das Investitionsrisiko für pharmazeutische Unternehmen wiederum sehr hoch. Entscheidet sich ein Unternehmen, Therapieansätze für eine Seltene Erkrankung zu erforschen, sucht es nach der Stecknadel im Heuhaufen. Auch die Entwicklung eines Orphan Drugs ist sehr aufwändig: Sie kann bis zu 15 Jahre dauern und mehrere hundert Millionen bis Milliarden Euro kosten. Hersteller müssen also in der Lage sein, diese Kosten zu refinanzieren. Da der Absatzmarkt durch kleine Patientenpopulationen aber stark begrenzt ist, ergeben sich auch höhere Preise.
Als Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) engagieren wir uns seit Jahren für verbesserte Diagnose- und Therapieoptionen. Die Versorgung ist ein Prozess: Entscheidend ist eine frühzeitige Diagnose. Das setzt voraus, dass Ärztinnen und Ärzte bei der Diagnosestellung auch an Seltene Erkrankungen denken. Oft vergehen etliche Jahre, bis Patientinnen und Patienten die zutreffende Diagnose erhalten. Aufgrund der Seltenheit und Komplexität der Krankheitsbilder ist es für viele Menschen ein langer Weg, bis sie von einer adäquaten Therapie profitieren können. Patientenlotsen in Zentren für Seltene Erkrankungen können bei unklaren Diagnosen helfen, diesen Prozess zu beschleunigen.
Therapien machen dann den Unterschied – doch Patientinnen und Patienten, die von ihnen profitieren, müssen erst einmal „gefunden“ werden. Um diesen Prozess integrativ zu denken, machen wir uns als BPI im Rahmen des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) stark. Im Zusammenschluss mit Bundesministerien und über 20 Bündnispartnern setzen wir uns dafür ein, dass alle Patientinnen und Patienten eine Chance auf eine zeitnahe Diagnose und Therapie ihrer Seltenen Erkrankung erhalten.
Für viele schwerkranke Patientinnen und Patienten, bei denen andere Therapien meist ausgeschöpft sind, können mitunter Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP) zum Einsatz kommen.
Weitere Informationen zum Thema finden Sie im BPI-Themendienst „ATMP“
Und im BPI-Themendienst „Seltene Erkrankungen“