Menschen mit Seltenen Erkrankungen stehen vor vielen Herausforderungen. Die BetroffenenOdyssee beginnt meist mit der Suche nach der richtigen Diagnose und geht weiter mit den oft eingeschränkten Behandlungsmöglichkeiten und spezialärztlichen Versorgungsoptionen. Prof. Martin Mücke ist Vorstandssprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen Aachen: Mit ihm sprachen wir über die wichtige Rolle der Zentren für Seltene Erkrankungen bei der Bewältigung dieser Problemstellungen.

Univ.-Prof. Dr. med. Martin Mücke
Direktor des Instituts für Digitale Allgemeinmedizin an der Uniklinik RWTH Aachen und Vorstandssprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen Aachen (ZSEA)
Foto: Ralf Bauer, Köln
An den Zentren für Seltene Erkrankungen gibt es spezielle interdisziplinäre Fallkonferenzen, sodass Patienten, sowohl Kinder als auch Erwachsene, viel besser besprochen werden können.
Herr Prof. Mücke, Sie beschäftigen sich seit geraumer Zeit mit Seltenen Erkrankungen. Was sind die größten Herausforderungen bei der Diagnosefindung?
Die größte Herausforderung besteht darin, dass es über 6.000 bekannte Seltene Erkrankungen gibt und diese sich häufig durch unspezifische Symptome zeigen. Zudem kommen die wenigsten Ärzte in ihrer täglichen Praxis mit solchen Erkrankungen in Berührung. Darüber hinaus können Symptome auch zwischen verschiedenen Seltenen Erkrankungen überschneiden, was die Suche nach der genauen Ursache weiter verkompliziert. Für Betroffene bedeutet das oft einen langen Leidensweg mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Arztbesuchen. Viele Betroffene, besonders Erwachsene, suchen sieben oder mehr Ärzte auf, bis die Diagnose steht. Zwar haben wir bei Kindern heute schnellere und bessere Diagnosewege, z. B. durch das Neugeborenenscreening und die U-Untersuchungen, bei denen Auffälligkeiten festgestellt werden können. Aber auch unter Kindern fällt noch eine beträchtliche Anzahl an Betroffenen durchs Raster.
Wie lange warten Betroffene durchschnittlich auf eine Diagnose, und welche Rolle spielen die Zentren für Seltene Erkrankungen dabei, um diese Zeitspanne möglichst zu verkürzen?
Bei Erwachsenen sind das im Schnitt 7 ½ Jahre, ich hatte aber auch schon Patienten, die mehr als 30 Jahre auf die richtige Diagnose warten mussten.
An den Zentren für Seltene Erkrankungen gibt es spezielle interdisziplinäre Fallkonferenzen, sodass Patienten, sowohl Kinder als auch Erwachsene, viel besser besprochen werden können. In diesen Konferenzen kommen sechs bis zehn Fachärzte zusammen, die mit ihrem Spektrum an Expertise einen ganzheitlichen Blick auf den Patienten werfen. Es wird eine Familienanamnese erstellt, um festzustellen, ob es bereits ähnliche Fälle in der Verwandtschaft gab oder gibt, um z. B. Hinweise auf genetisch bedingte Erkrankungen zu bekommen. Über die Fallkonferenzen erhalten wir zudem einen schnelleren Zugriff auf die neuartigen Diagnostikverfahren der Exom- und Genomsequenzierung.
Diese Kombination führt auch heute schon zu einer relativ hohen Aufklärungsrate. Der Knackpunkt ist, dass die Patienten den Weg in diese Zentren erst einmal finden müssen.
Deshalb müssen niedergelassene Kollegen wissen, dass sie Patienten mit unklarer Diagnose an ein solches Zentrum anbinden können. Hier ist nach wie vor noch viel Aufklärungsarbeit notwendig.
Lassen Sie uns einen Blick auf ein bestimmtes Krankheitsbild werfen: die X-chromosomale Hypophosphatämie (XLH), auch Phosphatdiabetes genannt. Diese Erkrankung ist zum Großteil erblich bedingt und manifestiert sich bereits im Kindesalter. Wie würde aus Ihrer Sicht der ideale Weg der Diagnosestellung und Versorgung aussehen?
Eine rasche Diagnose ist z. B. bei der XLH sehr wichtig, damit die damit verbundenen Wachstumsstörungen, Knochendeformationen und Beschwerden nicht weiter fortschreiten. Der ideale Diagnoseweg beginnt beim Kinderarzt, der die Anzeichen wie z. B. Skelettveränderungen oder auffällige Laborwerte (in diesem Fall insbesondere Phosphat und Vitamin D) beachtet und ggf. eine humangenetische Abklärung in Betracht zieht.
Der nächste Schritt wäre, den Patienten an ein spezialisiertes Zentrum zu überweisen, wo die Differenzialdiagnostik inkl. Familienanamnese stattfindet und die individuelle Behandlung definiert wird. Im Idealfall wird der Patient weiterhin von seinem örtlichen Arzt betreut, aber kommt regelmäßig zur Kontrolle ins spezialisierte Zentrum. Bei bereits erwachsenen Patienten ist das schwieriger, besonders, wenn sie schon lange Zeit mit den Symptomen leben. Das gilt natürlich nicht nur für die XLH, sondern auch für alle weiteren Seltenen Erkrankungen. Sind sie erblich bedingt, geben nicht diagnostizierte Patienten die Erkrankung womöglich unbemerkt an ihre Kinder weiter. In solchen Fällen erstellen wir, sobald die Patienten in einem spezialisierten Zentrum ankommen, eine sogenannte Kasuistik, arbeiten alle medizinischen Unterlagen auf und untersuchen den Patienten. Hat man den Verdacht, dass eine erblich bedingte Erkrankung vorliegt, kann genetisch getestet werden. Steht bereits ein bestimmter Verdacht im Raum, wird der Patient direkt an das auf diese Erkrankung spezialisierte Zentrum weitergeleitet.
Ich bleibe beim Beispiel XLH: Wenn Betroffene älter werden, stehen sie vor dem Übergang von der Kinder- und Jugendmedizin in die Erwachsenenversorgung (sog. Transition). Welche Lösungsansätze sehen Sie, damit auch erwachsene Betroffene weiterhin gut versorgt bleiben?
Solche Transitionsmodelle sind ungemein wichtig. Hier in Aachen machen wir dazu einen Round Table mit dem behandelnden Kinderarzt, einem Humangenetiker und dem Allgemeinarzt, um den Übergang in die Erwachsenenmedizin zu koordinieren. Damit bewirken wir, dass Patienten in dieser wichtigen Phase nicht durchs Raster fallen. Die Anbindung ans spezialisierte Zentrum bleibt dabei ein wichtiger Faktor. So bleiben Patienten gut versorgt und ihre Ärzte auch über die verfügbaren, ggf. neuen Therapieoptionen engmaschig informiert.
Was macht die spezialärztliche Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen an spezialisierten Zentren so besonders?
In den spezialisierten Zentren laufen alle Fäden zusammen, um die interdisziplinäre Betreuung zu gewährleisten. Diese Experten aus verschiedenen Disziplinen sind auch untereinander sowohl national als auch international sehr gut vernetzt. Bei der XLH braucht es z. B. eine enge Zusammenarbeit zwischen Endokrinologen, Nephrologen, Orthopäden, Humangenetikern, Physiotherapeuten, Zahnärzten. Das ist in einer niedergelassenen Praxis schwer leistbar. Aufgrund der vielen Fälle, die in spezialisierten Zentren behandelt werden, haben diese natürlich auch eine größere Bandbreite an Behandlungsoptionen. Die Therapien für seltene Erkrankungen sind oft sehr teuer und können häufig gar nicht von niedergelassenen Ärzten verschrieben werden. Auch hier haben die Zentren bei der Verschreibung, Applikation und Therapieanpassung eine Schlüsselrolle.