
Prof. Dr. med. Christian Hübner
Leiter des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum Jena, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik (GfH)
Foto: Forschungspreis Hübner+Kurth 2016
Aufgrund der großen Zahl sind trotz der Seltenheit der einzelnen Erkrankung allein in Deutschland in der Summe schätzungsweise vier Millionen Menschen von einer Seltenen Erkrankung betroffen.
In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn von ihr maximal eine von 2.000 Personen betroffen ist. Aktuell unterscheidet man mehr als 7.000 unterschiedliche Seltene Erkrankungen (SE), wobei ihre Zahl ständig weiterwächst. Die meisten SE verlaufen chronisch, gehen mit gesundheitlichen Einschränkungen und/oder eingeschränkter Lebenserwartung einher und manifestieren sich oft schon im Kindesalter. Aufgrund der großen Zahl sind trotz der Seltenheit der einzelnen Erkrankung allein in Deutschland in der Summe schätzungsweise 4 Millionen Menschen von einer Seltenen Erkrankung betroffen. Da alle Organsysteme betroffen sein können, sind die Symptome von SE sehr vielfältig. Oft können Symptome nicht einer bestimmten SE zugeordnet werden, was die klinische Diagnosestellung außerordentlich erschwert. Menschen mit SE haben daher oft einen langen Leidensweg, bis endlich eine Diagnose gestellt werden kann.
Die wichtige Rolle der genetischen Diagnostik bei Seltenen Erkrankungen
Da die meisten SE eine genetische Ursache haben, kommt der genetischen Diagnostik eine besondere Rolle bei der Findung oder Bestätigung einer Diagnose zu. Dies gilt umso mehr, seitdem mit den neuen Technologien wie dem „Next Generation Sequencing“ (NGS) die ca. 2 % des gesamten Erbguts ausmachenden Protein-kodierenden Abschnitte des Erbguts (das „Exom“), oder gar das gesamte Erbgut („Genom“) eines Menschen kostengünstig und innerhalb kurzer Zeit ausgelesen (“sequenziert“) werden. Mit der ExomDiagnostik kann bei bestimmten Krankheitsbildern, wie z. B. schweren Entwicklungsstörungen, in bis zu 60 % der Fälle eine genetische Ursache gefunden werden. Dies hat neben der Beendigung der diagnostischen Odyssee in vielen Fällen direkte therapeutische Konsequenzen bzw. ermöglicht eine gezielte Prävention sowie die Einschätzung von Prognose und Wiederholungsrisiken. Umso bedauerlicher ist es, dass die Exom- oder gar Genom-weite Diagnostik bisher nicht in der Regelversorgung in Deutschland abgebildet ist.
Die Grundlagen des Modellvorhabens
Dies kann sich jetzt mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) vom 11.07.2021 (BGBl. I, 2754) ändern, das in § 64e SGB V ein Modellvorhaben zur umfassenden Diagnostik und Therapiefindung mittels Genomsequenzierung sowohl bei seltenen als auch bei onkologischen Erkrankungen ins Leben gerufen hat. Grundlage des Modellvorhabens ist die Genom-Diagnostik im Rahmen eines strukturierten klinischen Behandlungsablaufs. Zentraler Bestandteil des Vorhabens ist zudem die Zusammenführung der klinischen und genomischen Daten in einer zentralen Dateninfrastruktur in pseudonymisierter Form, die eine Analyse der gewonnenen Daten zur Verbesserung der medizinischen Versorgung erleichtern wird.
Eingeschlossen werden können ambulante und stationäre Patienten mit einer SE, wenn diese nicht durch die in der Regelversorgung oder ambulanten spezialärztlichen Versorgung verfügbaren diagnostischen Tests aufgeklärt werden können. Der Einschluss erfolgt über die regelmäßig an den beteiligten Universitätsklinika stattfindenden interdisziplinären Fallkonferenzen, an denen zwingend ein Facharzt/eine Fachärztin für Humangenetik teilnehmen muss. Neben einer umfassenden Aufklärung der Patienten vor Einschluss in das Modellvorhaben ist selbstverständlich auch die interdisziplinäre Therapieplanung sowie die humangenetische Beratung bei Diagnosestellung ein zentraler Bestandteil des Modellvorhabens. Für diese Leistungen steht dem jeweiligen beteiligtem Universitätsklinikum ein zugewiesenes jährliches Budget für die nächsten fünf Jahre zur Verfügung.
Das Potenzial der Gennommedizin für Patienten und Forschende
Es ist davon auszugehen, dass sich mit der GenomDiagnostik die Aufklärungsrate seltener genetischer Erkrankungen weiter steigern lässt und sie daher mittelfristig in die Regelversorgung aufgenommen wird. Neben dem unmittelbaren Nutzen im Hinblick auf die Diagnosestellung und etwaige medizinische Maßnahmen werden Patienten mit SE von den durch eine zentrale Datenerfassung verbesserten Möglichkeiten der Erforschung der Ursachen und Therapiemöglichkeiten profitieren.
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