Professor Ernst Hund ist Neurologe und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Amyloiderkrankungen. Im Interview spricht er über die Transthyretin-assoziierte familiäre Amyloid-Polyneuropathie (hATTR-PN) und warum der Kampf gegen seltene Erkrankungen so wichtig ist.
Prof. Dr. med. E. Hund
Facharzt für Neurologie, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Amyloiderkrankungen e.V.
An der Transthyretin-assoziierten familiären Amyloid-Polyneuropathie – kurz hATTR-PN – leiden schätzungsweise weltweit nur 8.000 Menschen. Wie kam es dazu, dass Sie sich auf diese Erkrankung spezialisiert haben, um den Betroffenen zu helfen?
Ich hatte damals einen Patienten, der an der hATTR-PN litt. Nach einer ausführlichen Familienanamnese war klar, dass es im Familienumfeld weitere Betroffene gab. Dadurch war ich mit der Thematik schnell vertraut und bin dabei geblieben. Über die Jahre habe ich zudem gemerkt, dass es sich wirklich lohnt, sich für seltene Erkrankungen einzusetzen.
Warum?
Oft werden die seltenen Erkrankungen noch recht stiefmütterlich behandelt. Doch auch die Waisen der Medizin verdienen Beachtung, und dafür setze ich mich ein. Betroffene mit seltenen Erkrankungen verdienen die gleiche medizinische Versorgung wie Patienten mit einer häufigen Erkrankung.
Absolut. Bitte beschreiben Sie kurz, was die Ursache der Krankheit hATTR-PN ist und was im Körper der Betroffenen passiert.
Die Betroffenen haben eine genetische Veränderung im Transthyretin-Gen, wodurch das Eiweiß Transthyretin fehlgebildet ist, sich umfaltet und dadurch als Amyloid ablagert. Das kann in unterschiedlichen Geweben passieren: Betroffen sind vor allem die peripheren Nerven im Sinne einer Polyneuropathie und das Herz im Sinne einer Kardiomyopathie.
Welche Symptome sind typisch für eine hATTR-PN?
Die wichtigsten Symptome gehen vom peripheren Nervensystem aus: Kribbeln, Taubheit und Ameisenlaufen in den Beinen, wo die Symptome grundsätzlich beginnen. Hinzu kommen Muskelschwächen. Bei bestimmten Mutationen kann es auch vorkommen, dass Symptome vom Herzen auftreten: Man bekommt schwer Luft und ist nicht mehr so leistungsfähig.
In welchem Alter treten die Symptome typischerweise auf?
Das erstaunliche ist, dass es zwei unterschiedliche Altersgruppen gibt, in denen sich die Erkrankung manifestiert. In Deutschland tritt die Krankheit meist bei älteren Menschen im Alter von 50 und mehr Jahren auf. In diesem Alter wird meist nicht mehr an eine erbliche Erkrankung gedacht, und Begleiterkrankungen kaschieren das klinische Bild.
Es gibt aber auch eine frühe Manifestation im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Diese ist in Deutschland eher untypisch, in Portugal aber die häufigste Variante.
Für seltene Erkrankungen ist es eher untypisch, dass die Symptome so spät auftreten. Gibt es dafür eine Erklärung?
Generell ist es bei Erbkrankheiten so, dass diese auch erst im Erwachsenenalter auftreten können. Körpereigene Mechanismen sind bis zu einem gewissen Alter noch in der Lage, Defizite auszugleichen. Wenn dies nicht mehr möglich ist, sammeln sich im Falle einer hATTR-PN die Transthyretin-Eiweiße an und lagern sich im Gewebe ab.
Gibt es Symptomkombinationen, bei denen Patienten sich dringend an einen Spezialisten wenden sollten?
Natürlich sollte man immer zum Arzt gehen, wenn man merkt, dass der eigene Körper aus dem Gleichgewicht gerät. Im Grunde genommen ist es dann die Aufgabe des Arztes, die nächsten Schritte einzuleiten. Im Falle einer hATTR-PN bedeutet dies, den Patienten an einen Neurologen oder Kardiologen zu überweisen. Allerdings ist die Diagnosestellung bei seltenen Erkrankungen oft schwierig, weil die Symptome zu wenig bekannt sind und die Erkrankung dann nicht erkannt wird.
Wie lange dauert es, um die Diagnose einer hATTR-PN zu stellen?
Wie bei den meisten seltenen Erkrankungen dauert die Zeit bis zur Diagnose auch hier sehr lange – viel zu lange, meiner Meinung nach. In der Regel sind es nämlich drei bis vier Jahre, in Ausnahmefällen kann es aber auch länger dauern. In dieser Zeit der Nicht-Diagnose schreitet die Erkrankung schon weit fort und es kommt zu schweren neurologischen Defiziten, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Dies versuchen wir durch Aufklärungsarbeit und Vorträge zu vermeiden, um dadurch das Krankheitsbild bekannter zu machen.
Wie wird die Diagnose einer hATTR-PN gestellt?
Der Neurologe kann zunächst die Polyneuropathie feststellen und muss im nächsten Schritt klären, wo diese ihren Ursprung hat. Wenn die Polyneuropathie besonders schnell voranschreitet, rasch zu Lähmungserscheinungen an den Füßen führt und andere Therapien nicht anschlagen, sollte in jedem Fall an eine hATTR-PN gedacht werden. Durch eine Biopsie kann dann das abgelagerte Amyloid im Gewebe nachgewiesen werden. Im nächsten Schritt muss durch eine immunhistochemische Untersuchung gezeigt werden, daß das Amyloid aus Transthyretin zusammengesetzt ist.
In Heidelberg gibt es ein spezialisiertes Zentrum für Patienten mit hATTR-PN. Wie sieht die Versorgungslage in Deutschland generell aus?
Die Versorgungslage in Deutschland ist in Bezug auf die hATTR-PN noch sehr „dünn“. Momentan versorgen wir in Heidelberg Patienten aus ganz Deutschland. Natürlich hätten wir gern lokale Ansprechpartner, und wir hoffen, dass sich dies in naher Zukunft durch die neuen Therapiemöglichkeiten ändert. Ich gehe davon aus, dass die Erkrankung durch diese neuen Therapien bekannter wird. Dies ist wichtig, um schnell die richtige Diagnose zu stellen, denn nur wenn die Diagnose gestellt ist, kann man die Patienten richtig behandeln.
Welche Chancen gibt es für Patienten mit einer hATTR-PN?
Der genetische Defekt einer hATTR-PN bleibt trotz Therapie bestehen, aber die Amyloidbildung kann verhindert werden. Das heißt, es gibt heute reelle Therapiechancen. Die Lebenserwartung und auch die Lebensqualität werden dadurch bedeutend besser. Unbehandelt verläuft die Krankheit etwa acht bis 15 Jahre nach ihrem Auftreten tödlich. Mit den heute verfügbaren Medikamenten hat man gute Möglichkeiten, diesen Verlauf zu verlangsamen, wenn nicht sogar zu stoppen.