Hämophilie, in ihren verschiedenen Ausprägungen, zählt zu den seltenen hämatologischen Erkrankungen und ist bisher nicht heilbar. Allerdings ist die Erkrankung, bei der Betroffenen Gerinnungsfaktoren im Blut fehlen, mittlerweile gut behandelbar, sodass ein weitgehend normales Leben möglich ist. Dabei ist es natürlich wichtig, dass die Therapie regelmäßig und gewissenhaft durchgeführt wird. Und genau das kann im jugendlichen Alter manchmal schwierig werden. Ein Gespräch mit Tobias Becker, Hämophilie-A-Patient und Vorstandsmitglied der IGH e.V., und Dr. Dr. med. Christoph Königs, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Hämostaseologe am Universitätsklinikum Frankfurt am Main, über mögliche Stolpersteine und die Motivation jugendlicher Patienten zur Eigenverantwortung.
Dr. Dr. med. Christoph Königs
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Hämostaseologe am Universitätsklinikum Frankfurt am Main
Tobias Becker
Hämophilie-A-Patient und Mitglied des Vorstandes der IGH e. V.
Herr Becker, Sie leben mit einer schweren Hämophilie A. Wann wurden Sie diagnostiziert und wie ging es Ihren Eltern damit?
Die Hämophilie wurde innerhalb meines ersten Lebenshalbjahres festgestellt. Wie viele andere Hämophilie-Betroffene hatte ich viele blaue Flecken am Körper, direkt nach der Geburt hatte ich einen größeren Bluterguss am Kopf, der nicht ganz leicht zu behandeln war. Bei mir kam es aber nie zum Worst-Case-Szenario, das viele Eltern betroffener Kinder erleben: dass bei den blauen Flecken fälschlicherweise zunächst an Kindesmisshandlungen gedacht wird. Meine Eltern wurden direkt zu einem Hämophilie-Zentrum geschickt, da die Ärzte bereits die richtige Vermutung hatten. Dort wurde die Diagnose gestellt. Für meine Eltern, die beide Ärzte sind, war das ein Schock. Denn damals, wie heute, war auch unter Ärzten das Wissen über die Hämophilie noch nicht sehr verbreitet.
Die Hämophilie ist Ihr lebenslanger Begleiter. Wie war das für Sie als Jugendlicher? Mit welchen Herausforderungen sahen Sie sich konfrontiert?
TB: Ich kam mit der Hämophilie grundsätzlich immer recht gut klar. Ich bin sehr behütet aufgewachsen, meine Eltern haben mich immer optimal unterstützt. Aber es gab natürlich Einschränkungen. Ich wusste, dass ich mich regelmäßig spritzen muss, daher hieß es an drei Tagen der Woche, früher aufzustehen, damit das vor der Schule noch erledigt werden konnte. Und es gab manche Dinge, die ich eher nicht tun sollte. Ich wollte zum Beispiel immer gern mit meinen Freunden im Verein Fußball spielen, aber das Verletzungsrisiko und somit die Gefahr von Blutungen ist da recht hoch. Ich habe dann angefangen, im gleichen Verein Tennis zu spielen. So konnte ich wenigstens das gleiche Trikot wie meine Freunde tragen und mich dort aufhalten, wo meine Freunde waren. Für meine Freunde war meine Hämophilie aber nie ein Problem, im Gegenteil: Sie waren eher interessiert und haben sich schützend vor mich gestellt, wenn es nötig war.
Ich glaube, meine Eltern hatten damals die größeren Herausforderungen zu bewältigen. Zusätzlich zur ständig präsenten Sorge um mich mussten sie sich mit Erzieher*innen, Lehrer*innen und Rektor*innen verständigen.Vor jeder Klassenfahrt mussten sie alles regeln, damit die verantwortlichen Personen Bescheid wussten, dass ich mit Hämophilie A lebe, was bezüglich der Medikamente zu tun ist und wie man sich im Ernstfall verhalten muss.
Herr Dr. Dr. Königs, Sie behandeln Kinder und Jugendliche mit Hämophilie: Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen, dass sowohl Kinder als auch Eltern verschiedene Herausforderungen haben?
Natürlich spielt beides eine Rolle. Ein kleines Kind, das erst ein paar Monate alt ist, findet es sicher nicht schön, regelmäßig im Rahmen der Therapie gestochen zu werden. Aber natürlich liegt die Belastung hier erst mal eher bei den Eltern. Das verlagert sich mit zunehmendem Alter immer mehr auf den Betroffenen selbst. Bei uns im Zentrum bemühen wir uns daher aktiv darum, bereits die kleineren Kinder ihrem Alter entsprechend mit einzubeziehen. Sie können mithelfen, das Spritzen erlernen, bis sie es irgendwann selbst übernehmen können. Mit zunehmendem Alter der Betroffenen versuche ich auch, die Eltern öfter einmal auszuklammern, damit meinen Patienten klar wird: Das ist deine Hämophilie, nicht die deiner Mutter oder deines Vaters.
Man kann mit einer Hämophilie heute gut leben, aber der Preis ist hoch. Allein, dass morgens, bevor es zur Schule geht, gespritzt werden muss oder dass bei sportlichen Aktivitäten berücksichtigt werden muss, dass der Faktorspiegel dafür passen sollte: Das sind alles Dinge, die zum Leben eines Hämophilie-Betroffenen dazugehören. Wir sehen unsere Aufgabe im Hämophilie-Zentrum daher besonders dort, die Kinder und ihre Eltern dabei zu unterstützen, damit zurechtzukommen.
Warum ist Therapietreue denn so wichtig, gerade mit Blick auf die Zukunft?
CK: In erster Linie damit Betroffene gesund bleiben. Denn der Schaden, der heute gesetzt wird, zum Beispiel durch eine Gelenkblutung, wird sich später bemerkbar machen. Die Gelenke sind das Gedächtnis der Hämophilie-Therapie. Heißt: Die Blutung, die im Kindesalter entsteht, sorgt für einen Schaden, der auch dauerhaft bestehen bleiben kann. Das sehen wir heute deutlich bei jungen Erwachsenen, die erst spät mit einer Prophylaxetherapie angefangen haben, da sie einen deutlich schlechteren Gelenkstatus aufweisen als Betroffene, die bereits früh und suffizient prophylaktisch behandelt wurden und gute Medikamentenspiegel erreichen.
TB: Das ist tatsächlich auch etwas, was mich beunruhigt: Es gibt Studien, die darauf hindeuten, dass es z.B. Mikroblutungen geben kann, die man gar nicht bemerkt, die aber trotzdem Schaden anrichten und den Gelenkstatus langfristig negativ beeinflussen. Wenn ich daran denke, mit welchen Faktor-Leveln ich manchmal auf dem Tennisplatz aktiv war, sind diese im Vergleich zu dem, was heute in der Prophylaxe angestrebt wird, grauenvoll gewesen. Das zeigt aber umso mehr, dass man die heute verfügbaren Möglichkeiten ausschöpfen sollte, um später keine böse Überraschung zu erleben.
Aus Ihrer Erfahrung: Wie können Eltern betroffener Kinder/Jugendlicher und Behandler optimal zusammenarbeiten?
CK: Wichtig ist erst einmal zu betonen, dass wir in einem umfassenden Behandlungsteam arbeiten, das aus Hämophilieassistent*innen, Sozialarbeiter*innen, Physiotherapeut*innen, Ärzt*innen etc. besteht. Das Wichtigste ist dann für alle Beteiligten, offen und ehrlich zu
kommunizieren. Man muss Probleme benennen und darüber sprechen, was nicht funktioniert, Scham ist hier absolut fehl am Platz. Man muss den graduellen Übergang in die Eigenverantwortlichkeit der Betroffenen schaffen. Das ist Teamwork. Es ist ja heutzutage nicht mehr so, dass das Behandlungsteam sagt, was gemacht wird und die Eltern das dann durchsetzen. Der Patient wird altersentsprechend und früh mit eingebunden im Hinblick auf seine Ideen, Ziele, Therapieplanung und -durchführung.
Wie kann man jugendliche Patienten motivieren, Eigenverantwortung für den Erfolg ihrer Therapie zu übernehmen, ohne als Arzt oder Eltern zu viel Druck auszuüben?
CK: Hier gehen zwei Dinge Hand in Hand: Der Betroffene muss irgendwann “aus dem Nest hüpfen” und selbst Verantwortung übernehmen. Wenn die Mutter eines 22 Jahre alten Patienten anruft, um sein Faktorpräparat zu bestellen, dann ist dieser Sprung aus dem Nest deutlich überfällig. Auf der anderen Seite müssen die Eltern die Verantwortung irgendwann auch abgeben, heißt: Selbstständigkeit unterstützen und loslassen, wo es nötig ist. Und hier kommt Motivation durch positive Erfahrung ins Spiel: Wenn die Betroffenen selbst merken, dass sie durch Therapietreue mehr Möglichkeiten und Freiheiten und keine Blutungen und Schmerzen bekommen, dann ist das die ideale Motivation, um weiterzumachen und selbst Verantwortung zu übernehmen.
Ein Beispiel: Einer meiner Patienten, etwa zehn Jahre alt, bisher lief alles unkompliziert, dann haderte er sehr mit seiner Hämophilie, da seine Eltern ihn stets zur Vorsicht mahnten und gewisse Dinge nicht erlaubten, zum Beispiel Übernachtungen bei Freunden. Wir haben dann gemeinsam besprochen, dass er weiß, wie er Eltern und das Hämophilie-Zentrum im Notfall erreicht. Und er kann auch schon selbst sein Medikament spritzen. Wir haben also gemeinsam den Weg frei gemacht für den Übernachtungsbesuch. Das hat ihm einen unheimlichen Motivationsschub verpasst und gleichzeitig die Eltern aufgefangen.
Was hätten Sie sich als Jugendlicher an Hilfe und Unterstützung gewünscht und was möchten Sie anderen Betroffenen mit auf den Weg geben?
TB: Ich habe mich tatsächlich immer sehr gut versorgt gefühlt. Sicher hätten die Dinge komfortabler sein können, aber manchmal brauchen die Dinge eben einfach Zeit, besonders wenn es um die Entwicklung besserer Medikamente geht, die nicht mehr so häufig gespritzt werden müssen. Auch die Herangehensweise an den Alltag hat sich verändert. Bei mir hieß es noch oft: Das geht nicht, das darfst du nicht. Das sieht heute aber schon anders aus: Hier wird jetzt eher geschaut, was individuell für Betroffene möglich ist, ohne direkt nur mit Verboten zu arbeiten.
Beim Übergang in die Erwachsenenmedizin wäre es sicher gut gewesen, wenn ich etwas strukturierter herangegangen wäre, in der Hinsicht, dass ich Termine vor- und nachbereite und Themen konkret anspreche, die für mich in der jeweiligen Lebensphase relevant gewesen sind.
CK: Hier haben wir in der Medizin noch einiges zu lernen. Das Feld der Transitionsmedizin, also des Übergangs von der Kinder- in die Erwachsenenmedizin, ist in Deutschland noch relativ jung. Und dann muss man auch dazu wissen, dass es bei chronischen Erkrankungen immer eine Herausforderung ist, das Behandlungsteam zu wechseln. Hier können strukturierte Programme und integrierte Zentren helfen.
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