Das Nebennierenkarzinom ist eine bösartige Entartung der Nebennierenrinde. Da die Erkrankung äußerst selten ist, gibt es nur wenige Kliniken, die auf die Behandlung spezialisiert sind. Die Endokrinologie des Universitätsklinikums Würzburg hat sich in Diagnostik, Therapie und Forschung zu dem aktuell größten Zentrum der Welt für diese Erkrankung entwickelt. Der Leiter der Endokrinologie und Diabetologie, Prof. Dr. med. Martin Fassnacht, im Interview. Er ist gleichzeitig Vorstandsmitglied des Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZESE) Nordbayern und der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie.
Prof. Dr. med. Martin Fassnacht
Hormon- und Krebsexperte
Wie selten ist das Nebennierenkarzinom?
Es gibt jährlich nur 80 bis 100 neue Fälle in Deutschland.
Sind eher Männer oder Frauen betroffen, und in welcher Altersgruppe tritt die Erkrankung vorwiegend auf? Kann man das eingrenzen?
Tatsache ist, im Gegensatz zu vielen anderen Tumorerkrankungen, die ja eher bei älteren Menschen auftreten, dass das Nebennierenkarzinom in jedem Alter vorkommen kann. Relativ gesehen gibt es sogar einen gewissen Anstieg im Kindesalter. Absolut gesehen ist es am häufigsten zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr. Es sind knapp zwei Drittel Frauen und ein Drittel Männer betroffen.
Wie entsteht der Tumor?
Leider weiß man bisher relativ wenig darüber, auch weil es eine seltene Erkrankung ist. Wir und einige andere Gruppen weltweit arbeiten intensiv daran, mehr darüber zu erfahren. Wir wissen mittlerweile Einiges, aber warum der eine Mensch die Erkrankung bekommt und die meisten anderen nicht, ist weiterhin unklar.
Welche Symptome machen sich bei einer solcher Erkrankung bemerkbar?
Häufig spielen die Hormone verrückt. Bei den Frauen werden durch den Tumor häufig vermehrt männliche Hormone produziert, die eine stärkere Körperbehaarung sowie einen Bartwuchs auslösen können. Zusätzlich kommt es oft durch das Ausschütten des körpereigenen Hormons Cortisol zu Blutdruckerhöhung, Neigungen zu Blutergüssen und dem Schwinden der Muskelkraft. Bei Männern kann zum Beispiel die vermehrte Ausschüttung weiblicher Hormone zu einer Brustentwicklung führen. Wenn diese Symptome sehr ausgeprägt sind, wird von den Betroffenen schnell reagiert. Ist die Ausprägung geringer, leider nicht, und es kann einige Monate dauern, bis man sich beim Arzt vorstellt. Wenn die Tumore nicht so hormonaktiv sind, können sie zum Teil sehr groß werden. Die Nebenniere selbst ist ein sehr kleines Organ, das nur wenige Zentimeter misst. Die Tumore haben hingegen im Schnitt einen Durchmesser von zwölf Zentimetern, können aber bis zu 30 Zentimeter und größer werden. Dann rufen sie oft ein Völlegefühl und Schmerzen hervor.
Werden Nebennierenkarzinome rechtzeitig erkannt? Wie werden sie diagnostiziert?
Rund 60 Prozent der Patienten fallen durch die Hormonproblematik auf, 30 Prozent tumorbedingt durch Schmerzen und in zehn Prozent liegt ein Zufallsbefund im Rahmen einer Bildgebung aus anderen Gründen vor. Mittels bildgebender Verfahren wie einer Computertomografie (CT), einer Magnetresonanztomografie (MRT) oder einer Positronen-Emissions-Tomografie (PET) lassen sich die Größe und Ausdehnung des Tumors bestimmen und eventuelle Tochtergeschwüre, sogenannte Metastasen, erkennen. Aber hierdurch lässt sich keine eindeutige Diagnose stellen, da es auch noch andere Tumore im Bereich der Nebenniere gibt. Wichtig ist deshalb eine ausführliche hormonelle Diagnostik, vor allem der Steroidhormone, die in der Nebennierenrinde gebildet werden. In unserem Labor können wir zum Beispiel mittels der sogenannten Massenspektrometrie mehr als 15 Steroidhormone bestimmen. Dies erlaubt uns, dass wir häufig schon vor der Operation sagen können, ob tatsächlich ein Nebennierenkarzinom vorliegt. Nach der Operation bestätigt ein Pathologe dann die Diagnose endgültig.
Also ist die Therapie des Nebennierenkarzinoms die Operation.
Im Idealfall ja. Ist die Erkrankung auf die Nebennieren beschränkt, ist die vollständige operative Entfernung des Tumors der wichtigste erste Therapieschritt, und die Heilungschancen sind gut. Durch eine vorbeugende, sogenannte adjuvante medikamentöse Therapie kann man diese Chancen weiter verbessern. Wenn eine Operation nicht möglich ist, ist die Gesamtprognose entsprechend schlechter.
Bitte gehen Sie näher darauf ein.
Beim Nebennierenkarzinom ist die Prognose insgesamt leider eher schlecht. Wird der Tumor sehr früh erkannt, was leider selten ist, überleben die meisten Patienten langfristig. Aber wenn es bereits zu Metastasen gekommen ist, liegt das Überleben leider oft nur im Bereich von ein bis zwei Jahren. Allerdings gibt es auch hier immer wieder positive Ausnahmen und auch in dieser Situation erfreulicherweise Langzeitüberlebende.
Damit umzugehen, ist für Betroffene und Angehörige schwer zu verarbeiten. Wohin können sich diese Menschen wenden, um zusätzliche Unterstützung zu bekommen?
Meiner Meinung nach ist das Wichtigste, dass Betroffene an ein Zentrum geraten, in dem die Erkrankung häufiger behandelt wird. Je erfahrener die Ärzte in Bezug auf das Nebennierenkarzinom sind, desto besser stehen die Chancen. Und es ist wichtig, dass viele Disziplinen sich mit der Erkrankung auskennen – unter anderem Endokrinologen, Chirurgen, Radiologen, Onkologen. Leider kommen Patienten häufig zu spät oder gar nicht in spezialisierte Zentren, da anfangs versucht wird, die Erkrankung auf lokaler Ebene zu behandeln. Das führt dazu, dass Betroffene an Ärzte geraten, die noch nie einen Patienten mit Nebennierenkarzinom gesehen haben. Das ist suboptimal. Spezialisierte Zentren für Seltene Erkrankungen sind also meine erste Empfehlung, da sie dann an die Expertenzentren verweisen können. Auch Selbsthilfegruppen sind sehr sinnvoll und können für Betroffene und deren Angehörige sehr hilfreich sein. Leider gibt es in Deutschland aktuell keine Gruppe, die sich ausschließlich mit dem Nebennierenkarzinom auseinandersetzt. Eine Option ist das Netzwerk für Hypophysen- und Nebennierenerkrankungen “Glandula”. International gibt es einige Gruppen, die auch diverse Internetforen anbieten, in denen Patienten, die sich nicht vor dem Englischen scheuen, Austausch mit Betroffenen finden.
Was wünschen Sie sich an Verbesserungen für die Versorgung von Betroffenen und wie können diese Ihrer Meinung nach erreicht werden?
Mein Hauptwunsch wäre, dass alle Patienten schon vor der Operation, vor der Ersttherapie Kontakt mit einem spezialisierten Zentrum aufnehmen, damit die Therapie dort stattfindet, wo ausreichend Erfahrung hierfür besteht. Damit würde es bei vielen Patienten gelingen, die Prognose um ein Vielfaches zu verbessern.