Nicht-dystrophe Myotonien (NDM) sind eine Gruppe seltener Erberkrankungen. Das Hauptsymptom: Betroffene sind aufgrund der Krankheit nicht fähig, die der körperlichen Bewegung dienenden Muskeln (Skelettmuskulatur) nach der Kontraktion sofort wieder zu entspannen. Ein Gespräch mit Volker Kowalski, der selbst von einer NDM betroffen ist und 2014 mit drei weiteren Betroffenen die Patientenorganisation „Mensch und Myotonie e. V.“ ins Leben gerufen hat.
Volker Kowalski
1. Vorsitzender Mensch und Myotonie e. V.
Sie sind betroffen von einer nicht-dystrophen Myotonie (NDM). Wann haben Sie das erste Mal gemerkt, dass mit Ihren Muskeln etwas nicht stimmt?
Ich habe tatsächlich schon im Kindergartenalter gemerkt, dass meine Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist. Damals war ich vier oder fünf Jahre alt. Meine Eltern dachten, ich sei einfach ein bisschen faul und träge, und haben versucht, mich mit verschiedenen pädagogischen Maßnahmen anzuspornen. Zum Arzt sind sie mit mir aber nie gegangen.
Die tatsächliche Diagnose wurde gestellt, als ich 15 Jahre alt war. Ich hatte zu der Zeit im Schulsport großen Stress und Druck, weil ich den Aufgaben an Schnelligkeit, Ausdauer und Kraft einfach nicht gewachsen war. Daher bin ich dann einfach selbst zum Arzt gegangen, weil ich wissen wollte, was mit mir los ist. Ich hatte das riesige Glück, dass mein damaliger Hausarzt seine Doktorarbeit über die Myotonia congenita Becker geschrieben hat. So war die Diagnose direkt ein Volltreffer und mir blieb so der möglicherweise lange Spießrutenlauf von Arzt zu Arzt glücklicherweise erspart.
Wie wirkt sich die Erkrankung im Alltag aus, mit welchen Einschränkungen haben Betroffene zu kämpfen?
Jegliche Art von Bewegungswechsel kann Betroffenen Probleme bereiten, weil die Muskeln sich aufgrund der Erkrankung wesentlich langsamer entspannen als bei gesunden Menschen. Man muss die betreffenden Muskeln jedes Mal auf eine bestimmte Art der Bewegung vorbereiten, dann kann man sie kurzzeitig relativ normal ausführen. Es gibt aber Situationen, wo dieser Übergang zwischen Bewegungen zu massiven Schwierigkeiten führen kann. Die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Muskulatur ist ständigen täglichen Schwankungen ausgesetzt. An bestimmten Tagen muss man beispielsweise beide Hände nutzen, um eine Kaffeetasse zu halten, weil die Kraft temporär sonst nicht ausreicht. Das ist Außenstehenden schwer zu vermitteln: Man hat da einen athletischen, scheinbar kräftigen jungen Mann vor sich sitzen, der aber Probleme hat, ein Glas Wasser mit einer Hand zu halten.
Eine andere Situation könnte so aussehen: Stellen Sie sich vor, man geht über eine Fußgängerampel und kommt ins Stolpern, was bei NDM-Patienten ein typisches Symptom ist. Man fällt der Länge nach hin, aber kann nicht wieder aufstehen, weil die Bewegung förmlich eingefroren ist. Wenn dann die Ampel auf Rot springt und dazu die anfahrenden Autos auf einen zufahren, womöglich noch hupen, dann tut die Stresssituation ihr Übriges. Denn dann geht gar nichts mehr, weil die Muskeln einfach den Dienst versagen. Das ist nicht nur sehr unangenehm, sondern kann sehr gefährlich für Betroffene werden.
Ich habe selbst folgende Situation erlebt: Im Schwimmunterricht in der 6. Klasse musste ich ins relativ kalte, tiefe Wasser springen, ohne dass ich meine Muskeln in irgendeiner Form darauf vorbereitet habe. Da Kälte, genauso wie Stress, symptomfördernd ist, konnte ich mich nicht mehr bewegen und bin einfach untergegangen. Ich wäre ertrunken, wenn mein Sportlehrer mich nicht aus dem Wasser gezogen hätte. Die Erkrankung kann mit ihren Auswirkungen also durchaus lebensgefährlich werden.
Mittlerweile gibt es eine zugelassene Therapie und zudem weitere Ansätze zur Behandlung, die genutzt werden. Kann man unter Therapie denn ein geregeltes Leben führen?
Es gibt verschiedene Medikationen, das ist richtig. Allerdings ist die Wirksamkeit trotz gleicher Diagnose bei jedem einzelnen Patienten verschieden, eventuelle Nebenwirkungen fallen ebenfalls unterschiedlich aus. Hier muss man sich dann intensiv austauschen, was für welchen Patienten die individuell passende Behandlungsmöglichkeit ist. Es ist aber durchaus so, dass die verfügbaren Medikamente das alltägliche Leben vereinfachen können. Ich habe vor zehn Jahren Medikamente gefunden, die meine Beweglichkeit enorm steigern. Das hat eine ganz neue Lebensqualität für mich bedeutet.
Sie haben vor einigen Jahren die Patientenorganisation „Mensch und Myotonie e. V.“ gegründet. Was war die Motivation und was ist das Ziel der Organisation?
Ich habe vor zehn Jahren die für mich optimale Behandlungsoption gefunden. Diese Erfahrung wollte ich gern an andere Betroffene weitergeben und nicht für mich behalten. Aus diesem Grund wurde 2014 der beim Amtsgericht Dortmund eingetragene und als gemeinnützig anerkannte Verein gegründet. Unser Ziel war es von Anfang an, Informationen an andere Betroffene weiterzugeben und einen persönlichen Austausch in Bezug auf Therapieoptionen und Erfahrungen im Umgang mit der Erkrankung zu ermöglichen. Zudem sind wir inzwischen aufgrund unserer zahlreichen „NDM“-Vereinsmitglieder in unserer Patientenorganisation auch für Mediziner als Ansprechpartner interessant geworden: Prof. Dr. Schoser vom „Friedrich-Baur-Institut“ in München hat unsere Organisation persönlich kontaktiert, um das dort bestehende Patientenregister um den Bereich der nicht-dystrophen Myotonien zu erweitern. Er referierte zu dem Thema auch in einer Sonderveranstaltung unserer Organisation in Dortmund und stellte sich den medizinischen Fragen unserer Vereinsmitglieder.
Informationen zur Patientenorganisation „Mensch & Myotonie gem. e. V.“
Eine Mitgliedschaft in der ehrenamtlich geführten Patientenorganisation „Mensch & Myotonie gem. e. V.“ ist komplett kostenlos. Jeder zusätzliche Beitritt stärkt uns, unsere Interessen in der Öffentlichkeit und bei Institutionen wahrzunehmen. Zusätzlich zu den „NDM“ engagieren wir uns auch für Betroffene von „Periodischen Paralysen“ sowie von „Neuromyotonien“. Machen Sie mit – in Ihrem und unserem Interesse!
Weitere Informationen finden Sie unter www.menschundmyotonie.de
Kontakt:
Mensch & Myotonie e. V.
Postfach 16 03 30
44333 Dortmund
1. Vorsitzender
Volker Kowalski
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Tel.: 0231-803290 ( ab 12 Uhr )