Dr. med. Ralph Wendt ist Nephrologe und arbeitet tagtäglich interdisziplinär. Durch seine Erfahrung in einer Schweizer „Abteilung für unklare Leiden“ in der Nephrologie des Inselspitals Bern ist er vertraut damit, welcher Skepsis und Unsicherheit Patienten ohne Diagnose gegenüberstehen.
Dr. Ralph Wendt
Oberarzt Nephrologie am St.-Georg-Klinikum Leipzig
Wie viele Betroffene suchen nach einer Diagnose?
Das ist eine schwierige Frage. Es gibt mutmaßlich 3,5 bis 4 Millionen Deutsche, die wohl an seltenen Erkrankungen leiden. Doch es gibt eine noch viel höhere Zahl von Patienten, die Beschwerden haben, die unzureichend geklärt sind und das Gefühl haben, das etwas nicht stimmt in ihrem Körper.
Das Dilemma ist, dass ein Großteil dieser Patienten nicht an seltenen Erkrankungen leiden und so nicht in den Themenkomplex fallen. Das zu differenzieren ist oft schwierig.
Was ist Ihre persönliche Motivation, sich für diese Betroffenen zu engagieren?
Wenn sie ein bekanntes Volksleiden leitliniengerecht behandeln ist das schön, aber kein weltbewegendes Unterfangen. Wenn sie einem verzweifelten Patienten, der seit zehn Jahren mit unklaren Beschwerden kämpft und zunehmend als Spinner oder psychisch Kranker hingestellt wird, helfen können, die Beschwerden auf ein objektivierbares Leiden zurückzuführen, die Diagnose zu stellen und idealerweise einer Therapie zuzuführen, ist das äußerst befriedigend.
Man sieht verzweifelte Patienten mit einer oftmals langen Odyssee, und bekommt die Möglichkeit, tatsächlich aus dem Dunklen heraus eine Diagnose auszuarbeiten, die das Leben dieser Patienten massiv und nachhaltig verändert. Das kommt im klinischen Alltag leider selten vor.
Der Arzt heutzutage arbeitet im Spannungsfeld von festgelegten Algorithmen und Leitlinien von wenigen, aber sehr häufig vorkommenden Erkrankungen Die Aufarbeitung von Patienten ohne Diagnose ist anspruchsvoll, sehr zeit- und ressourcenaufwendig, obligat interdisziplinär und folgt detektivischen Mustern in dem Versuch, aus Beschwerdekonstellationen im Zusammenhang mit einer ausführlichsten Anamnese und unter Aufarbeitung von den oft zahlreichen Vorbefunden eine Spur zu finden, die man dann weiter verfolgen und idealerweise zu einer Diagnose entwickeln kann. Man bekommt die die Chance, für den Patienten wahrlich große Veränderungen zu bewirken.
Worin liegt die Schwierigkeit der Fälle von Patienten ohne Diagnose?
Ein Teil der Fälle ist nicht schwierig. Ein Patient, der seit Jahren Beschwerden hat, kann durch die korrekte Zuordnung zu einem Spezialisten teilweise schnell diagnostiziert werden.
Die Patienten, die trotz allem keine Diagnose bekommen können, sind fast immer
nur in einem interdisziplinären Ansatz zu lösen. Meine Erfahrung zeigt, dass ein
Patient es gut akzeptieren kann, wenn ein Arzt nicht weiß, was er hat oder
keine Diagnose stellen kann, solange er den Eindruck gewinnt, dass der Arzt
sich für den Fall und das menschliche Schicksal dahinter interessiert, sich
aufrichtig und voller Eifer um die Aufarbeitung bemüht und voller Empathie um den
Patienten kümmert. Der Patient merkt, wenn es dem Arzt „nicht egal“ ist.
Es gibt keinen Arzt, der alle oder auch nur ein Großteil der seltenen Erkrankungen kennt. Die Kunst besteht darin, mit größtmöglicher Offenheit an solche Patienten heranzugehen, ohne sich in den oftmals angestellten Interpretationen und generierten Hypothesen der Vorgeschichte und Vorbefundungen zu verfangen. Dafür ist es unabdinglich, interessierte und versierte Kollegen aus anderen Fachgebieten zu Rate zu ziehen, um objektivierbare Erkenntnisse der Vergangenheit zu ordnen, Zusammenhänge zu erstellen und weitere Abklärungsschritte zu planen..
Eine realistische Vorstellung der am Ende manchmal enttäuschenden Möglichkeiten zeigte eine rezente Publikation im renommierten NEJM auf, die eine erfolgreiche Abklärungsrate von Patienten ohne Diagnose trotz vorheriger intensiver Abklärung unter nahezu idealen Bedingungen in hochspezialiserten Zentren mit größtmöglichen Ressourcen und Durchführung einer vollständigen genetischer Sequenzierung von gerademal 35%zeigt.
Was ist die Problematik dabei in Deutschland und welche Lösungsansätze gibt es?
Das Problem ist, dass es zu wenig lebendige Zentren oder Abklärungsstrukturen für Patienten ohne Diagnose gibt, keine einheitlichen Kriterien, welche definieren, was überhaupt ein Zentrum für seltene Leiden ist, welche Qualitätskriterien sinnvoll wären, wie die Finanzierung derartiger Vorhaben gestaltet werden kann und schließlich große Unklarheit, wie der zu erwartende Ansturm von Patienten triagiert und letztlich bedient werden kann Wir haben weiterhin ein riesiges Defizit in der Speicherung von relevanten Patientendaten.
Die Diagnoselistenerfassung anhand von ICD-Codes ist ein medizinischer Unfall und nicht zur Dokumentation von individuellen Patientendiagnosen geeignet. Eine der wichtigsten Aufgaben ist daher das Sondieren und Aufarbeiten der Akten, Vorbefunde und Patientenhistorien
Das Zusammentragen der gesamten medizinischen Vorgeschichte des Patienten ist in Deutschland ein äußerst mühsames Unterfangen. Es gibt keine einheitliche Kultur der Pflege von Diagnosenlisten. Eine elektronische Erfassung von Daten wäre vor allem dann sinnvoll, wenn eine medizinische Fachkraft sie liebevoll pflegt, aktualisiert und regelmäßig überprüft und anpasst
Man könnte auf kleinstem Raum eine gesamte Patientenhistorie dokumentieren, welche überschaubar und zeitsparend ist. Das ist in der nachträglichen Erstellung eine sehr mühsame Arbeit, würde aber nach meiner Überzeugung zu einer besseren Medizin führen und helfen, Mehrfachdiagnostik und ärztliche Fehleinschätzungen zu vermeiden, aber auch die Abklärung von Patienten ohne Diagnose ungemein erleichtern.